Entscheidungsstichwort (Thema)
Strenge Auslegung bei Ausschluss von Rechtsansprüchen nach § 85 Abs. 2 S. 3 BetrVG. Gerichtliches Entscheidungsprivileg gegenüber Entscheidung durch Einigungsstelle bei § 100 BetrVG
Leitsatz (amtlich)
1. Der in § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG festgelegte Ausschluss von Rechtsansprüchen als Gegenstand von Beschwerden ist streng auszulegen. Bei einer justiziablen Angelegenheit scheidet die Anrufung der Einigungsstelle durch den Betriebsrat aus. Dies gilt unabhängig davon, ob der Rechtsanspruch schwer konkretisierbar ist oder ob der Arbeitgeber einen Entscheidungsspielraum für eine Abhilfeentscheidung hat.
2. Ob Gegenstand der Beschwerde ein Rechtsanspruch ist, muss im gerichtlichen Verfahren nach § 100 ArbGG entschieden werden und darf nicht der Beantwortung durch die Einigungsstelle überlassen bleiben.
Normenkette
BetrVG § 85; ArbGG §§ 100, 100 Abs. 2 S. 4
Verfahrensgang
ArbG Köln (Entscheidung vom 29.06.2021; Aktenzeichen 11 BV 154/21) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Köln vom 29.06.2021 - 11 BV 154/21 - abgeändert.
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Einsetzung einer Einigungsstelle bezüglich der Beschwerde einer Arbeitnehmerin.
Die Arbeitgeberin ist eine Gesellschaft der I Gruppe, einem großen Anbieter der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit. Frau B ist die Bürokraft des Betriebsrats. Mit Schreiben vom 24.06. 2020 mahnte die Arbeitgeberin Frau B ab, weil sie ihre Arbeitsunfähigkeit am 15.06.2020 lediglich dem Betriebsratsvorsitzenden, nicht aber der Personalabteilung angezeigt hatte.
Mit Schreiben vom 02.07.2022 wandte sich der Betriebsratsvorsitzende an den Personalleiter der Arbeitgeberin mit der Forderung, die Abmahnung sofort zurückzunehmen, da sich Frau B an ihre Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag gehalten und ihn, den Betriebsratsvorsitzenden, bereits am 14.06.2020 um 20:00 Uhr per E-Mail mitgeteilt habe, dass sie am nächsten Morgen zum Arzt gehe. In der Folgezeit korrespondierten die Beteiligten und ihre Bevollmächtigten weiter zu dem Thema.
Mit Schreiben vom 09.03.2021 beschwerte sich Frau B bei dem Betriebsrat darüber, dass sie sich durch die Arbeitgeberin ungerecht behandelt und beeinträchtigt fühle, da sie im Falle einer Erkrankung die Personalabteilung vor Dienstbeginn über ihre Erkrankung zu unterrichten habe. So müsse sie in einer Situation, in der sie ohnehin bereits gesundheitlich beeinträchtigt sei, zwei Stellen im Betrieb kontaktieren. Denn den Betriebsratsvorsitzenden habe sie in jedem Fall zu informieren, da er die Arbeit im Betriebsratsbüro erforderlichenfalls umorganisieren müsse.
Der Betriebsrat beschloss in seiner Sitzung vom 09.03.2021, die Beschwerde von Frau B für berechtigt zu erachten, sowie in seiner Sitzung vom 04.05.2021, die Einigungsstelle anzurufen.
Der Betriebsrat hat beantragt,
- zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand "Beschwerde der Frau M B vom 09.03.2021" Herrn Direktor des Arbeitsgerichts Ka. D. F T zu bestellen;
- die Anzahl der Beisitzer auf zwei je Seite festzusetzen.
Die Arbeitgeberin hat beantragt,
die Anträge abzuweisen.
Sie hat die Ansicht vertreten, dass die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig sei, da sie einen Rechtsanspruch der Arbeitnehmerin zum Gegenstand habe. In Wirklichkeit gehe es dem Betriebsrat weniger um die erst acht Monate nach der Abmahnung gefertigte schriftliche Beschwerde der Frau B , sondern um die Rechtsposition des Betriebsratsvorsitzenden als ihrem Vorgesetzten. Frau B werde durch die Anweisung, ihre Arbeitsunfähigkeit gegenüber der Personalabteilung anzuzeigen, nicht doppelt belastet. Denn die Personalabteilung würde die Krankmeldung selbstverständlich an den Betriebsratsvorsitzenden weiterleiten. Mit einer Bestellung von Herrn T zum Einigungsstellenvorsitzenden sei sie nicht einverstanden.
Das Arbeitsgericht hat mit einem am 29.06.2021 verkündeten Beschluss den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts B a.D. Dr. H E zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand "Beschwerde der Frau M B vom 09.03.2021" bestellt und die Anzahl der Beisitzer für jede Seite auf zwei festgesetzt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die Bestellungsvoraussetzungen des § 85Abs. 2 BetrVG erfüllt seien. Der Betriebsrat habe die Beschwerde einer Arbeitnehmerin entgegengenommen und für berechtigt erklärt. Die Arbeitgeberin habe der Beschwerde nicht abgeholfen. Der Bestellung der Einigungsstelle stehe nicht der Rechtsansprüche betreffende Ausnahmetatbestand des § 85 Abs. 2 Satz 3 BetrVG entgegen. Zwar betreffe die Anweisung, sich im Krankheitsfall bei zwei Stellen melden zu müssen, die Frage, ob die Ausübung des Direktionsrechts durch die Arbeitgeberin rechtmäßig sei. Zur Vermeidung eines Leerlaufs des Mitbestimmungsrechts nach§ 85 BetrVG sei der Ausnahmetatbestand jedoch nach Auffassung von Teilen der Rechtsprechung aber dann eingeschränkt auszulegen, wenn Gegenstand der Besch...