Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozesskostenhilfe. hinreichende Erfolgsaussicht. Anhörung des Gegners. Benachteiligung. Sprechstörung. Kommunikationsstärke

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Arbeitsgericht hat vor der Entscheidung über das PKH-Gesuch den Gegner nach § 118 Abs. 1 S. 1 ZPO anzuhören, wenn die Erfolgsaussicht der Klage von der Auslegung eines Begriffs (hier: Kommunikationsstärke) abhängt, den der Gegner als Grund für die Ablehnung der Bewerbung des behinderten Menschen, der Entschädigung und Schmerzensgeld verlangt, verwandt hat.

2. Wird die Bewerbung eines Menschen mit Sprechstörung wegen fehlender „Kommunikationsstärke” und „großer Kommunikationsprobleme” abgelehnt, so kann die Vermutung gerechtfertigt sein, es liege eine Benachteiligung wegen seiner Behinderung vor. Der einstellende Arbeitgeber hat diesen Vermutungstatbestand nach § 22 AGG zu entkräften.

3. Sofern der Arbeitgeber nachweist, dass der Arbeitsplatz auch bei benachteiligungsfreier Auswahl mit einem anderen besseren Bewerber besetzt worden wäre, und im Zusammenhang mit der Ablehnung auch nicht eine besonders schwere Persönlichkeitsverletzung erfolgt ist, kann der behinderte Mensch nur eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG von maximal 3 Monatsgehältern verlangen.

 

Normenkette

ZPO § 114; AGG § 7 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Bonn (Beschluss vom 20.07.2011; Aktenzeichen 5 Ca 1722/11 EU)

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Bonn vom 20. Juli 2011 – 5 Ca 1722/11 EU – abgeändert:

  1. Dem Kläger wird Prozesskostenbeihilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt J. aus K. für die Klage auf Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 3 Monatsgehältern nach der Entgeltgruppe 9 TVöD bewilligt.
  2. Im Übrigen wird der Antrag auf Prozesskostenhilfe zurückgewiesen.
 

Tatbestand

I. Der Kläger hat Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Entschädigung und Schmerzensgeld wegen einer Benachteiligung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund seiner Sprechbehinderung beantragt.

Der Kläger, geboren am … 1960, hat einen Bescheid des Versorgungsamtes Trier vom 7. Mai 1979 vorgelegt, worin eine Minderung seiner Erwerbsfähigkeit mit einem Grad von 30 „wegen Sprechstörungen bei psycho-vegetativer Labilität” anerkannt worden ist.

Er bewarb sich mit Schreiben vom 8. Februar 2011 auf die von der Beklagten ausgeschriebene Stelle eines Arbeitsvermittlers, der vollzeitig befristet bis zum 31. Dezember 2015 mit einer Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 TVöD beschäftigt werden sollte. Nach einem Bewerbungsgespräch am 23. Februar 2011 teilte die Beklagte dem Kläger mit Mailschreiben vom gleichen Tag mit, „andere Bewerber/innen hätten sie mehr überzeugt, insbesondere seien diese besser über ihr Jobcenter informiert und kommunikationsstärker”.

Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 18. April 2011 von der Beklagten vergebens Schadensersatz und Entschädigung wegen Diskriminierung in Höhe von EUR 30.298,92 zum Ausgleich immaterieller Schäden und in Höhe von EUR 2.524,91 zum Ausgleich materieller Schäden (Lohnausfall) sowie Ersatz von Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 2.493,05 gefordert hatte, verlangt er mit Klage vom 13. Juli 2011 von der Beklagten Zahlung von EUR 30.298,92 als Schmerzensgeld, von jeweils EUR 2.524,91 als Gehälter für die Monate März 2011 bis einschließlich Juni 2011 abzüglich erhaltenem Arbeitslosengeld in Höhe von monatlich EUR 793,02 sowie Ersatz der außergerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 2.493,05 und der gerichtlich entstehenden Kosten der Rechtsverfolgung einschließlich Anwaltshonoraren. Er behauptet, er habe seit rund 45 Jahren eine Behinderung im Redefluss (Stottern).

Das Arbeitsgericht Bonn hat den Antrag auf Prozesskostenbewilligung durch Beschluss vom 20. Juli 2011 mangels hinreichender Aussicht für die Klage zurückgewiesen mit der Begründung, soweit die Beklagte andere Bewerber als kommunikationsstärker bezeichnet habe, stelle dies eine bei der Ablehnung von Bewerbern gebräuchliche und übliche Floskel dar. Kommunikationsstärke habe nichts mit einer Sprechbehinderung zu tun. Es gehe dabei nicht um Redefluss und Aussprache, sondern insbesondere um Wortwahl und Satzbau.

Der dagegen fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde hat das Arbeitsgericht Bonn nicht abgeholfen, sondern sie dem Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Vorbringen des Klägers in seiner Beschwerdeschrift darüber, wie der Begriff „Kommunikationsstärke” zu verstehen sei und inwiefern die Beklagte den durch die Behinderung eingeschränkten Redefluss als Grund für die Ablehnung seiner Bewerbung genommen habe, führe zu keiner anderen Beurteilung der fehlenden Erfolgsaussicht. Selbst die Voraussetzungen einer Beiordnung nach § 11 a ArbGG lägen nicht vor, da die Klage aus den Gründen des vorherigen Beschlusses vom 20. Juli 2011 sich als offensichtlich mutwillig darstelle.

Der Kläger trägt vor, während einem anderen Bewerber nur „Defizite im Kommunikationsverhalten” bescheinigt worden seien, ...

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