Entscheidungsstichwort (Thema)

Parallelentscheidung zu LAG Niedersachsen 8 Sa 1148/20 v. 06.07.2022

 

Leitsatz (amtlich)

1. Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einer Betriebsvereinbarung, eine personenbezogene Auswertung von Daten, die er durch den Einsatz von Kartenlesegeräten gewonnen hat, nicht vorzunehmen, kann sich auch der einzelne Arbeitnehmer darauf berufen.

2. Erklärt der Arbeitgeber in einem Betriebskonzept oder auf einer Beschilderung einer Videoüberwachungsanlage, die hieraus gewonnenen Daten nur 96 Stunden lang aufzubewahren, kann ein Arbeitnehmer hierauf die berechtigte Privatheitserwartung stützen, dass der Arbeitgeber nur auf Videodateien Zugriff nehmen wird, die - bei erstmaliger Sichtung - nicht älter als 96 Stunden sind.

3. Zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten ist eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes in der Regel weder geeignet noch erforderlich.

4. Der - erstmalige - Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, ist zum Zwecke der Aufdeckung eines behaupteten Arbeitszeitbetruges regelmäßig nicht angemessen. Solche Daten unterliegen im Kündigungsschutzprozess einem Beweisverwertungsverbot.

 

Normenkette

BDSG §§ 32, 4; GG Art. 1; DSGVO Art. 5; BGB § 626 Abs. 1; GewO § 109; KSchG § 9 Abs. 1 S. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Hannover (Entscheidung vom 11.09.2020; Aktenzeichen 6 Ca 115/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 29.06.2023; Aktenzeichen 2 AZR 299/22)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 11.9.2020 - 6 Ca 115/19 - sowie ihr Auflösungsantrag werden auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen und einer weiteren - hilfsweisen - ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie über die Erteilung eines Zwischenzeugnisses.

Der am 00.00.1974 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem 00.00.1996 zuletzt als Teamsprecher im Bereich Gießerei beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung hat das Arbeitsgericht auf der Grundlage des erstinstanzlichen Vortrages mit 8.914,50 Euro angenommen. Nach den Behauptungen der Beklagten in der zweitinstanzlichen Kammerverhandlung vom 06.07.2022 belief sich das Jahresgesamtbruttogehalt des Klägers ausweislich der der Beklagten vorliegenden Lohnabrechnung für Dezember 2018 auf 83.951,45 Euro, was durchschnittlich 6.995,95 Euro brutto monatlich entspricht.

Auf den Betrieb der Beklagten findet das Kündigungsschutzgesetz Anwendung. Im Betrieb H., dem der Kläger zuzuordnen ist, ist ein Betriebsrat gebildet.

Die Beklagte betreibt ein Hinweisgebersystem, mittels dessen Arbeitnehmer unter Wahrung ihrer Anonymität Hinweise zu Unregelmäßigkeiten, auch und insbesondere betreffend das Verhalten anderer Arbeitnehmer, geben können. Wie aus einem Bericht der "Konzern Sicherheit Forensik" vom 07.06.2019 (Bl. 68 ff. d.A.) hervorgeht, habe es einen - dort datumsmäßig nicht näher spezifizierten - anonymen Hinweis gegeben, wonach mehrere Mitarbeiter aus dem Bereich der Gießerei H., darunter der Kläger, regelmäßig Arbeitszeitbetrug begingen.

Mit Schreiben vom 21.06.2019 (Bl. 67 d.A.) erteilte die Beklagte dem Kläger eine von ihr so bezeichnete "Verwarnung" mit dem Vorwurf, der Kläger habe am 30.04.2019 seinen Arbeitsplatz unerlaubt vorzeitig verlassen. Dieses Schreiben ging dem Kläger am 04.09.2019 zu.

Am 26.08.2019 befragten die Mitarbeiter F. und B. der Abteilung Werksicherheit der Beklagten den Kläger zum Vorwurf eines Arbeitszeitbetruges und fertigten hierüber ein Protokoll, das der Kläger mit "gelesen und unterschrieben" gegenzeichnete (Bl. 83 ff. d.A.).

Mit Schreiben vom 25.09.2019 (Bl. 87 ff. d.A.) lud die Beklagte den Kläger für den 01.10.2019 zu einem Personalgespräch ein. Hierin führte sie aus, der Kollege D. habe am 02.06.2018 unbefugt den Werkausweis des Klägers vor das Lesegerät am Tor 5 gehalten und damit die Anwesenheit des Klägers in dieser Schicht suggeriert. Der Kläger sei an diesem Tag zur Nachtschicht eingeteilt gewesen sei und habe von 21:30 Uhr bis um 05:30 Uhr arbeiten müssen. Sein Zutritt sei jedoch weder über das Kartenlesesystem noch über die Videoaufzeichnungen feststellbar. Aufgrund der geschilderten Umstände gehe die Beklagte davon aus, dass der Kläger am 02.06.2018 nicht anwesend gewesen sei. Zudem sei für den Kläger am 11.05.2018 und am 26.05.2018 keine Infobuchung am Eingangstor erfolgt. Laut Personalwesen sei der Kläger jedoch im SAP-System als anwesend geführt worden. Es bestehe insoweit der dringende Verdacht, dass der Kläger nicht erschienen sei und sich durch einen anderen Mitarbeiter in der Anwesenheitsliste als anwesend habe führen lassen. Der Kläger nahm diesen Termin ankündigungsgemäß nicht wahr und nahm auch sonst nicht weiter Stellung.

Mit Schreiben vom 05.10.2019 (Bl. 12 d.A.), das dem Kläger am 08.10.2019 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos, mit weiterem Schreiben vom 09.10.2019 (Bl. 16 d.A...

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