Entscheidungsstichwort (Thema)
Schmerzensgeldanspruch einer Medizinischen Fachangestellten bei bedingt vorsätzlicher Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften durch den Betreiber einer Arztpraxis
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Haftungsprivileg des § 104 SGB VII entfällt, wenn sich der (doppelte) Vorsatz des Handelnden auf die Verletzungshandlung und den Verletzungserfolg bezieht. Bedingter Vorsatz reicht aus.
2. Allein der Verstoß gegen bestehende Schutzpflichten indiziert noch keinen Vorsatz bezüglich der Herbeiführung eines Arbeitsunfalls im Sinne des § 104 SGB VII. Eine vorsätzliche Pflichtverletzung mit einer ungewollten Unfallfolge kann nicht mit einem gewollten Arbeitsunfall oder einer gewollten Berufskrankheit gleichgesetzt werden.
3. In tatsächlicher Hinsicht gibt es jedoch keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass derjenige, der vorsätzlich eine zugunsten der Arbeitnehmerin bestehende Schutzvorschrift missachtet, eine Schädigung oder eine mögliche Berufskrankheit der Arbeitnehmerin nicht billigend in Kauf nimmt. Insoweit kommt es stets auf die genauen Umstände des Einzelfalles an.
4. Bedingter Vorsatz setzt voraus, dass der Handelnde die maßgeblichen Umstände jedenfalls für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, wobei die objektive Erkennbarkeit der Tatumstände allein nicht ausreicht. Bewusste Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Handelnde darauf vertraut, dass der Schaden nicht eintreten wird.
5. Verstößt der Arbeitgeber als Arzt vorsätzlich gegen bestehende Schutzvorschriften, indem er statt der seit Jahren vorgeschriebenen Sicherheitskanülen die herkömmlichen Kanülen ohne Sicherheitsklappe verwenden und die gebrauchten Kanülen im Wege des “Recappings„ entsorgen lässt, und infiziert sich eine Auszubildende an ihrem ersten Arbeitstag in dieser Arztpraxis, in der sie sich im Gegensatz zu einer früheren Ausbildungstätigkeit auch mit einem anderen Blutabnahmesystem vertraut machen muss, bei der Entsorgung einer Kanüle mit Hepatitis C, liegt hinsichtlich des Schadenseintritts bedingter Vorsatz vor. Unter diesen Umständen kann der Arbeitgeber nicht auf einen glücklichen Ausgang vertrauen, sondern überlasst es dem Zufall, ob sich die von ihm erkannte Gefahr verwirklicht oder nicht.
6. Im Einzelfall kann ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000 Euro gerechtfertigt sein, wenn eine 20jährige Auszubildende infolge einer Infektion mit Hepatitis C auf Dauer unmittelbar gesundheitlich beeinträchtigt bleibt, weil sie sich zur Behandlung der Hepatitis C nicht nur zweimal einer Interferonmedikation unterziehen musste, sondern darüber hinaus auch aufgrund der medikamentösen Behandlung der Hepatitis C an rheumatoider Arthritis erkrankt ist, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung künftiger Lebensführung insbesondere auch im Bereich von Ehe und Familie führt.
Normenkette
BGB §§ 611, 241 Abs. 2, §§ 282, 280, 823 Abs. 2, § 253; SGB VII § 104; BGB § 253 Abs. 2, § 611 Abs. 1; SGB VII § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 104 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Bamberg (Entscheidung vom 19.04.2016; Aktenzeichen 4 Ca 718/15) |
Tenor
1. Das Endurteil des Arbeitsgerichts Bamberg - Kammer Coburg - vom 19.04.2016 wird abgeändert.
2. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,00 € (in Worten: einhundertfünfzigtausend Euro) zu zahlen.
3. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Schmerzensgeldansprüche.
Die Klägerin begann am 01.10.2008 in der Praxisgemeinschaft Dr. med. U... und Dr. med. G... eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten. Die Ausbildung sollte zum 30.09.2011 beendet sein.
Mit Schreiben vom 05.02.2011 bewarb sich die Klägerin beim Beklagten und teilte mit, dass sie ihre Ausbildung im Juli 2011 abschließen werde. Der Bewerbung war ein Zwischenzeugnis vom 23.12.2010 beigefügt. Darin heißt es u.a.:
Sie erlernte die Labortätigkeit (Urinstatus, Blutzuckerbestimmung, Sterilisieren von chirurgischem Besteck), sehr bald konnte sie selbständig Blutentnahmen und das Anlegen von Infusionen sowie intrakutane und intramuskuläre Injektionen durchführen und zeigte dabei ein umsichtiges und sicheres Verhalten.
Unter dem 06.06.2011 vereinbarten die Parteien, das Berufsausbildungsverhältnis zwischen der Klägerin und Herrn Dr. U... mit allen Rechten und Pflichten nahtlos zum 06.06.2011 zu übernehmen.
Seit August 2006 sieht die TRBA (Technische Regelung für biologische Arbeitsstoffe) 250 verschärfte Sicherheitsanforderungen beim Umgang mit spitzen oder scharfen medizinischen Instrumenten vor. Diese Instrumente sind durch geeignete sichere Arbeitsgeräte zu ersetzen, bei denen keine oder eine geringere Gefahr von Verletzungen besteht. Solche Instrumente sind insbesondere Sicherheitskanülen. Sicherheitskanülen sind mit einer klappbaren Abdeckkappe versehen, mit der die benutzte Nadel unmittelbar nach Gebrauch einhändig gesichert wird.
Die nicht mit einer derartigen Klappe versehenen Nadeln wurden mittels eines sog. Recappinggef...