Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Erledigung, Aufhebung und Rücknahme von Bescheiden über die Befreiung eines Vertragsarztes von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst. Wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse. Frist für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes. Umdeutung. Gleichmäßige Belastung aller Vertragsärzte
Leitsatz (amtlich)
Zur Erledigung (auf sonstige Weise gemäß § 39 Abs 2 SGB X), Aufhebung (gemäß § 48 SGB X) und Rücknahme (gemäß § 45 SGB X) von (Alt-) Bescheiden über die Befreiung eines Vertragsarztes von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst wegen Neuregelung der Befreiungsvoraussetzungen in der Notfalldienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung.
Normenkette
SGB X § 39 Abs. 2, § 45 Abs. 3, § 48 Abs. 1 S. 1, § 43
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19.02.2014 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000,00 € endgültig festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung einer ihm erteilten Befreiung von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst.
Der ärztliche Notfalldienst ist in der Notfalldienstordnung der Beklagten (NFDO) geregelt. Die NFDO vom 28.11.2007 - eine Satzung - ist am 01.01.2008 in Kraft getreten, nachdem die Beklagte durch Verschmelzung ihrer vormals rechtlich selbstständigen Bezirke (KV N.- und S., N.- und S.) errichtet worden ist. Die Rechtsvorgängerinnen der Beklagten hatten den ärztlichen Notfalldienst für ihren Zuständigkeitsbereich jeweils durch Satzung geregelt.
Die Befreiung von der (für jeden niedergelassenen Arzt verpflichtenden) Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst war im Zuständigkeitsbereich der vormaligen KV S. in § 2 Abs. 1 ihrer Notfalldienstordnung (NFDO KV S.) geregelt. Die Vorschrift hatte folgenden Wortlaut:
Ärztinnen und Ärzte, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, können auf schriftlichen Antrag vom Notfalldienst befreit werden. Im Übrigen kann eine Befreiung nur in besonders begründeten Ausnahmefällen erfolgen, der Antragsteller hat die Gründe, auf die er seinen Befreiungsantrag stützt, glaubhaft zu machen.
Seit dem 01.01.2008 gilt für die Befreiung von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst die Vorschrift in § 6 Abs. 2 (zunächst und hier noch maßgeblich und gleichlautend: Abs. 3) NFDO. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut:
Abgesehen von den Fällen des Abs. 1 können Ärzte und Ärztinnen von der Teilnahme am Notfalldienst befreit werden, wenn sie aus gesundheitlichen oder vergleichbar schwerwiegenden Gründen, die zu einer deutlichen Einschränkung ihrer vertragsärztlichen Tätigkeit führen, an der persönlichen Teilnahme am Notfalldienst gehindert sind, und ihnen die Bestellung eines Vertreters aus wirtschaftlichen Gründen nicht zugemutet werden kann …
Der 1952 geborene Kläger ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Er nimmt mit Sitz in O. an der vertragsärztlichen Versorgung teil.
Mit Bescheid vom 09.02.2004 befreite die KV S. den Kläger nach Maßgabe des § 2 NFDO KV S. auf Dauer von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst. Zur Begründung führte sie aus, der ärztliche Beirat habe dies aufgrund des vorgelegten ärztlichen Attests beschlossen. Die Dauer der Befreiung gelte entsprechend für den in O. installierten Wochentags-Bereitschaftsdienst der “Vernetzten Praxen„, an dem der Kläger wegen seiner Erkrankung derzeit nicht mehr aktiv teilnehmen könne. Die Mitgliedschaft könne man weiterhin aufrechterhalten.
Mit (ohne Anhörung ergangenem) Bescheid vom 11.05.2011 hob die Beklagte den Bescheid der KV S. vom 09.02.2004 auf. Zur Begründung führte sie aus, gemäß § 4 Abs. 1 NFDO nähmen grundsätzlich alle niedergelassenen Ärzte am Notfalldienst teil. Gemäß § 6 Abs. 3 (jetzt: Abs. 2) NFDO könnten Ärzte von der Teilnahme am Notfalldienst befreit werden, wenn sie aus gesundheitlichen oder vergleichbar schwerwiegenden Gründen, die zu einer deutlichen Einschränkung ihrer vertragsärztlichen Tätigkeit führten, an der persönlichen Teilnahme am Notfalldienst gehindert seien und ihnen die Bestellung eines Vertreters aus wirtschaftlichen Gründen nicht zugemutet werden könne. Diese - von der bei Erlass des Bescheids der KV S. vom 09.02.2004 geltenden Befreiungsvorschrift abweichende - (Neu-)Regelung trage der (neueren) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 06.02.2008, - B 6 KA 13/06 R -, in juris) Rechnung. Über die Befreiung des Klägers von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst sei daher wegen Änderung der rechtlichen Verhältnisse gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) neu zu entscheiden gewesen. Der Kläger könne ggf. erneut einen Befreiungsantrag stellen, über den nach Maßgabe der NFDO zu befinden wäre.
Am 22.06.2011 erhob der Kläger Widerspruch. Außerdem stellte er einen (neuen) Befreiungsantrag. Der Kläger legte einen Schwerbehindertenausweis (GdB 50) und Arztatteste vor (Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. H. vom 24.05.2011: Behandlung seit 2008 wegen rezidivierender dep...