Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wie-Berufskrankheit. neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Formaldehydexposition. chronisch-atrophische Rhinitis. Tätigkeit im Leichenkeller der Universitätsklinik. Präparatorgehilfe. Anatomie
Leitsatz (amtlich)
Bei einer Versicherten, die auf Grund ihrer Tätigkeit im Leichenkeller der Anatomie einer Universitätsklinik in hohem Maße der Einwirkung von Formaldehyd ausgesetzt war, ist eine chronisch-atrophische Rhinitis nach § 9 Abs. 2 SGB 7 wie eine Berufskrankheit anzuerkennen.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 22.04.2005 und der Bescheid vom 22.09.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2004 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, die chronisch-atrophische Rhinitis nach § 9 Abs. 2 SGB VII wie eine Berufskrankheit anzuerkennen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Instanzen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer chronisch-atrophischen Rhinitis und einer chronisch-hyperplastischen Laryngitis wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).
Die Klägerin war vom 01. Mai 1987 bis Oktober 1992 in der Anatomie der Universität H. halbtags angestellt. Seit Februar 1992 war sie krankgeschrieben. Von 1989 bis 1991 verrichtete sie wegen Personalmangels vermehrt Überstunden. Ihr Arbeitsplatz war der Leichenkeller, der nur in seinem Zentrum, nicht in den Randbereichen belüftet war. Die Klägerin hatte insbesondere die Abfalltöpfe aus dem Präpariersaal, deren Inhalt aus formalingetränkter Haut, Fett- und Zellstoff bestand, zu reinigen; weiterhin war sie für die Wäsche der Leichentücher, die mit Formalin getränkt auf den Leichen im Präpariersaal lagen, zuständig; bei der Aufbewahrung und Vorbereitung von Leichen vor ihrer Verwendung im Präpariersaal hatte die Klägerin die Leichen jeweils in eine Wanne zu legen und aus einer Wanne zu befördern; außerdem hatte sie die Leichen in Plastikfolien einzuschweißen und, wenn sie aus dem Präpariersaal direkt vor Beginn des Präparierkurses zurückkamen, die Verschweißung zu entfernen; schließlich hatte sie alle drei bis vier Monate ein bis zwei Wannen zu reinigen. Bei allen Arbeitsvorgängen war sie, zum Teil in hohem Maße, Formalindämpfen ausgesetzt. Abgesehen von dieser Exposition war sie im Wintersemester 1989/90 dem Einfluss von Äthylenglykolmonophenyläther ausgesetzt, der von den Studenten zur Verhinderung von Schimmel über die Leichen im Präpariersaal versprüht worden ist.
Ein 1990 eingeleitetes Verfahren auf Anerkennung der Atemwegserkrankung der Klägerin als BK nach Nr. 4301 oder 4302 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) endete 1995 durch Zurückweisung der Berufung (S 3 U 53/92 /L 2 U 10/95, Urteil des Senats vom 05.09.1995).
Einen 1995 gestellten Antrag auf Anerkennung von cerebralen Störungen als BK bzw. wie eine BK nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte ab. In dem darauffolgenden Klageverfahren (S 3 U 247/97) führte der Sachverständige B. (Gutachten vom 31.03.1998) aus, die organische Dysphonie als Folge einer chronisch-hyperplastischen Laryngitis mit dauernder Heiserkeit und Phonasthenie sei als Folge stattgehabter hoher Exposition mit Formaldehyd wahrscheinlich, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 20 v.H..
Nach Auffassung des Sachverständigen Dr. W. liegt bei der Klägerin eine organische Dysphonie als Folge einer chronisch-hyperplastischen Laryngitis mit dauernder Heiserkeit und Phonasthenie vor, die als Quasi-BK nach § 551 Abs. 2 RVO anzuerkennen sei, die MdE betrage 20 v.H. (Gutachten vom 09.03.1998 nebst ergänzender Stellungnahme vom 07.07.1998.
Nach Auskunft des Bundesverbandes der Unfallkassen (vom 23.07.1998) wurden im Bereich der Unfallversicherungsträger der Öffentlichen Hand in den Berichtsjahren 1990 bis 1996 zwei Fälle mit einer Exposition gegenüber Formaldehyd im Sektionsraum gemeldet und als BKen im Sinne der Nrn. 4301 bzw. 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO; jetzt Anlage zur BKV) anerkannt. Zudem habe das LSG Niedersachsen (Urteil vom 23.03.1995 - L 6 U 162/92) im Falle eines Pathologiepflegers nach langjähriger Exposition gegenüber Formaldehyd entschieden, dass eine chronisch-atrophe Schleimhautentzündung der oberen Atemwege mit vermehrter Infektanfälligkeit und sensorischer Minderung von Geruch und Geschmack wie eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO zu entschädigen sei.
Das Sozialgericht für das Saarland (SG) holte ein weiteres Gutachten (vom 16.12.1999) bei Prof. Dr. T. ein. Dieser kam, gestützt auf ein Hals- Nasen- Ohrenärztliches Zusatzgutachten (vom 11.04.1999) von PD Dr. R. und ein phoniatrisches Zusatzgutachten (vom 13.08.1999) von Prof. Dr. P., zu dem Ergebnis, dass keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Arbeitsmedizin vorläge...