Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Gewährung einer zeitlich befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung bei eingeschränkter Vermittelbarkeit des Versicherten. Schwere spezifische Leistungsbehinderung. Gehörlosigkeit. Übliche Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Eingliederungszuschuss
Orientierungssatz
1. Bei einem Antrag auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB 6 beurteilt sich die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten nicht allein nach dessen Fähigkeit, Arbeiten überhaupt verrichten zu können, sondern danach, ob er fähig ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes durch Arbeit Erwerb zu erzielen.
2. Die Einstellung eines gehörlosen Mitarbeiters ist für den Arbeitgeber mit einem höheren betriebswirtschaftlichen Aufwand verbunden; regelhaft bewilligt das Jobcenter hierzu einen Eingliederungszuschuss. Damit korrespondiert der Anspruch des Versicherten auf Gewährung von Leistungen zur Teilnahme am Arbeitsleben durch den Rentenversicherungsträger nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB 6.
3. Dem gehörlosen Versicherten ist der Arbeitsmarkt solange verschlossen, bis eine dem potentiellen Arbeitgeber zugutekommende dessen Mehraufwand zumindest zum Teil kompensierende Teilhabeleistung erbracht bzw. rechtlich verbindlich i. S. des § 34 SGB 10 zugesichert ist. Nach § 9 Abs. 1 S. 2 SGB 6 sind Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an Versicherte zu erbringen, wenn ohne diese Leistung Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wäre.
4. Der Rentenanspruch des Versicherten ist wegen seiner Arbeitsmarktabhängigkeit zeitlich nach § 102 Abs. 2 SGB 6 zu befristen, längstens bis zur verbindlichen Zusicherung der Gewährung von die Erwerbsminderung beseitigenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Normenkette
SGB VI § 43 Abs. 2, § 102 Abs. 2, 2a; SGB IX § 8 Abs. 2, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagen wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. April 2015 dahingehend abgeändert, dass die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 16. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2013 dem Grunde nach verurteilt wird, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 1. April 2012 bis zum 31. März 2018 zu gewähren, längstens jedoch bis zur verbindlichen Zusicherung der Gewährung von die Erwerbsminderung beseitigenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.
Die am …1962 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt oder jedenfalls seit frühester Kindheit gehörlos. Trotz seit Jahrzehnten bestehender Versorgung mit Hörgeräten vermag sie nur das Vorhandensein lauter Geräusche wahrzunehmen, ist jedoch nicht in der Lage, einzelne gesprochene Wörter zu identifizieren, sodass sie bei auch bestehender Sprachstörung für die nicht schriftliche Kommunikation auf die Hilfe von Gebärdensprachdolmetschern angewiesen ist.
Nach Abschluss einer von 1978 bis 1981 absolvierten Ausbildung zur Bekleidungsfertigerin arbeitete die Klägerin zunächst vorübergehend in diesem Beruf, später in der Adjustierung sowie in der Endkontrolle einer Kellerei und war anschließend 9 Jahre lang bis September 2010 versicherungspflichtig im Versandhandel beschäftigt. Nach einer Qualifizierungsmaßnahme zur beruflichen Wiedereingliederung war sie noch bei verschiedenen Unternehmen jeweils kurzzeitig erwerbstätig und absolvierte Praktika. Die Klägerin nahm von September 2009 bis September 2010 an einer Integrationsmaßnahme beim Berufsförderungswerk teil und war anschließend arbeitslos bzw. seit März 2011 arbeitsunfähig wegen Depressionen, die nach Suizidversuch und erneuter -drohung zu einer mehrmonatigen stationären Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus führten. Seit Oktober 2011 bezieht die Klägerin Arbeitslosengeld II. Vom Versorgungsamt H. ist ein Grad der Behinderung von 100 wegen an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit mit Sprachstörung sowie psychischer Störung anerkannt; darüber hinaus wurde das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" festgestellt, derjenigen für die Merkzeichen "G" und "B" hingegen abgelehnt.
Die Klägerin beantragte am 20. September 2011 bei der Beklagten die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Sie halte sich seit Januar 2000 wegen Depressionen und durch Tinnitus bedingter Schlafstörungen für voll erwerbsgemindert.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ebenso wie mehrere im Jahr 2012 gestellte Anträge der Klägerin auf medizinische Rehabilitation und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ab, nachdem die von ihr mit der Begutachtung der Klägerin beauftragte Fachärztin für Neurologie Dr. G. die Klägerin noch für fähig gehalten hatte, 6 Stunden täglich und mehr Tätigkeiten am Arbeitsmarkt mit näher bez...