Wenn die Hürde des Vorliegens eines "wirklichen Bedürfnisses" genommen worden ist, muss das betriebliche Neutralitätsgebot auch verhältnismäßig sein, sprich: geeignet, erforderlich und angemessen.
2.3.1 Geeignetheit des Neutralitätsgebots
Eine Politik unternehmerischer Neutralität ist nur dann geeignet, wenn sie auch in einer kohärenten und systematischen Weise verfolgt wird. Hiermit soll verhindert werden, dass gegen das Gleichbehandlungsgebot und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Weltanschauung oder Religion verstoßen wird. Bei der Überprüfung durch die nationalen Gerichte soll die ordnungsgemäße Anwendung der Neutralitätspolitik überprüft werden, ob also tatsächlich eine allgemeine und undifferenzierte Neutralitätspolitik umgesetzt wird.
Voraussetzung einer wirksamen Neutralitätspolitik
Nur dann, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt sind, wird die Neutralitätspolitik wirksam verfolgt. Folglich beeinträchtigt das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens die Eignung der Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Ziels.
Unterscheidung in der Größe der Zeichen
Die X-GmbH verbietet nach Einführung der Neutralitätsordnung ihren Beschäftigten nur das Tragen großflächiger Zeichen weltanschaulicher oder religiöser Überzeugung. Das Tragen kleiner und unauffälliger Zeichen wird dagegen akzeptiert.
Hierin würde keine kohärente und systematische Umsetzung des Neutralitätsgebots vorliegen, sodass dadurch die Geeignetheit der von der X-GmbH eingeführten Neutralitätsordnung entfällt.
Nicht als modisches Accessoire
Achten Sie darauf, dass das Tragen religiöser oder weltanschaulicher Symbole auch nicht als modisches Accessoire toleriert wird. Ein striktes Neutralitätsgebot umfasst auch solche Bekundungen.
2.3.2 Erforderlichkeit des Neutralitätsgebots
Hier wird geprüft, ob sich das Verbot auf das unbedingt Erforderliche beschränkt. Ein Verbot religiöser und weltanschaulicher Zeichen darf nur an die Arbeitnehmer mit Kundenkontakt adressiert werden.
Neutralitätsgebot für Buchhalter
Die X-GmbH verbietet nach Einführung der Neutralitätsordnung allen Beschäftigten das Tragen jeglicher Zeichen weltanschaulicher oder religiöser Überzeugung. Der in der Buchhaltung beschäftigte Arbeitnehmer A fühlt sich aufgrund seiner tief empfundenen Religiosität dazu verpflichtet, eine Kreuzkette zu tragen. Die X-GmbH möchte ihm das unter Berufung auf die Neutralitätsordnung verbieten.
Da die Beschränkungen der Religionsfreiheit auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen sind, ist immer zu prüfen, ob das Verbot nicht überschießend ist. Dies steht der kohärenten Anwendung nicht entgegen, denn Kohärenz muss nur zwischen verhältnismäßigen Mitteln hergestellt werden.
Neutralitätsgebot für Buchhalter
Es ist also zu fragen, ob es der X-GmbH ohne zusätzliche Belastung möglich ist, dem A einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten (bei einer rein buchhalterischen Tätigkeit wohl der Fall).
2.3.3 Angemessenheit des Neutralitätsgebots
Schließlich muss im Rahmen der Angemessenheitsprüfung, die von den nationalen Gerichten durchzuführen ist, geprüft werden, ob die Religionsfreiheit und das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion in einem angemessenen Verhältnis zu dem Grundsatz der Neutralität stehen. Das bedeutet, dass die kollidierenden Rechtsgüter so miteinander in Einklang zu bringen sind, dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht. Besondere Bedeutung kommt dabei auf der einen Seite dem verfolgten Ziel und auf der anderen Seite der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung zu.
Abwägung hinsichtlich der Angemessenheit
Im Fall der Aufstellung einer Neutralitätsordnung ist die Religionsfreiheit mit der unternehmerischen Freiheit in Einklang zu bringen. Je stärker das wirkliche Bedürfnis des Unternehmens an der Einführung einer Neutralitätsordnung ist, also z. B. auf den Schutz anderer Grundrechte der Arbeitnehmer oder der Kunden (z. B. Schutz von Körper und Gesundheit durch Arbeitsschutzvorschriften; Erziehungsrecht der Eltern) verweisen kann, desto eher muss die Religionsfreiheit hinter der unternehmerischen Freiheit zurücktreten.
Allein der Schutz der Arbeitskollegen vor der Sichtbarkeit der Religion eines Kollegen oder eine Orientierung an Kundenwünschen führt nicht zu einer die unternehmerische Freiheit verstärkenden grundrechtlichen Wertung. Vielmehr sollte das Unternehmenskonzept mit dem Unternehmensgegenstand in einem Zusammenhang stehen, also es ist darauf abzustellen, ob und in welchem Maße di...