Verfahrensgerechtigkeit: Transparenz ist ein grundlegender Aspekt von Verfahrensgerechtigkeit. Dies belegt die LINOS-2-Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2017, die auf einer repräsentativen Befragung von 2.417 sozialversicherungspflichtig beschäftigten Personen beruht. Demnach gilt: Wenn die Lohnfindung nachvollziehbar und transparent ist, sind die Menschen eher geneigt, das Gehalt als gerecht zu bewerten[1]. Dieses Ergebnis widerspricht – scheinbar – den Aussagen von Wirtschaftspsychologen wie Florian Becker von der Wirtschaftspsychologischen Gesellschaft in München. Demnach kann Gehaltstransparenz zu Unzufriedenheit führen, das Selbstwert- und Gerechtigkeitsgefühl empfindlich stören und Kündigungsphantasien oder Rachegelüste auslösen. Gedanken ans Gehalt vergifteten die Atmosphäre. Wer an Geld denke, sei weniger hilfsbereit und es hemme die kollegiale Zusammenarbeit[2]. Laut der genannten LINOS-2-Studie ist diese Aussage jedoch in ihrer Allgemeinheit falsch. Die Wirkungen von Transparenz hängen stark davon ab, wie Unternehmen mit dem Thema umgehen: Ist es erlaubt, offen über das eigene Gehalt zu sprechen oder ist es nicht erlaubt? Erläutert ein Unternehmen das eigene Verfahren zur Gehaltsfindung oder sind Mitarbeiter auf Spekulationen angewiesen?

Für LINOS-2 wurden sowohl Personen aus Unternehmen befragt, in denen die Gehälter tabu waren, als auch aus solchen, in denen die Beschäftigten über das eigene Einkommen sprechen konnten. Das Ergebnis: "Menschen finden das gleiche Gehalt in einem transparenten Unternehmen gerechter als in einem nicht transparenten",erklärt Stefan Liebig, Professor für Soziologie an der der Universität Bielefeld, der zu sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeitseinstellungen forscht. "Wenn ein Unternehmen das eigene Gehaltsgefüge nicht richtig begründen kann, wirkt sich das negativ auf unser Gerechtigkeitsempfinden aus. In dem Moment, in dem sich Unternehmen aus einem Tarifsystem herausbewegen, müssen sie die dort vorhandenen Definitionen und klaren Regeln selbst liefern."[3]

Eine notwendige Voraussetzung für Transparenz besteht also darin, das Gehaltsgefüge nachvollziehbar zu gestalten. Individuelles Verhandlungsgeschick oder das Wissen, das ein Kollege über einen persönlichen Draht zum Vorgesetzten verfügt, sind hingegen kontraproduktiv. Ist das Gehaltsgefüge nachvollziehbar gestaltet, müssen Unternehmen keine Angst vor Gehaltstransparenz haben – im Gegenteil: Sie steigern mittels der Transparenz das Gerechtigkeitsempfinden.

Für gefühlte Verfahrensgerechtigkeit reicht oft schon minimale Transparenz, indem man beispielsweise das Verfahren nach unternehmensintern (nicht unbedingt nach außen) sichtbar macht. Dazu müssen nicht die genauen Gehaltshöhen der einzelnen Mitarbeiter genannt werden. Der Grad der Transparenz ist gleichwohl nach oben bzw. außen offen. Möchten Unternehmen nach außen Transparenz zeigen, dann hat das allerdings nicht mehr unbedingt mit Fairness zu tun, sondern mit der Darstellung als attraktiver Arbeitgeber. Hier folgen wir der Auffassung von Davids Cummins, Geschäftsführer der Ministry Group GmbH, der uns in einem der Interviews sagte: "Transparenz ist kein Selbstzweck, Transparenz ist ein Werkzeug." Und für den Einsatz jedes Werkszeugs macht es Sinn, sich vorab zu überlegen, welche Wirkung man erzielen möchte.

Verteilungsgerechtigkeit: Bislang herrscht noch vielfach die Meinung vor, Transparenz der Gehaltshöhe führe zu ständigen Vergleichen: Je transparenter die Vergütung und je direkter der Vergleich, desto eher sorgten sich Beschäftigte um ihren Anteil. Wir haben jedoch eher ein anderes Phänomen beobachtet: Mitarbeiter neigen dann dazu, sich zu vergleichen, wenn sie sowieso schon unzufrieden sind mit ihrem Arbeitsplatz. Ein weiterer Faktor: Wenn die Gehälter in der Vergangenheit rein nach Nasenfaktor oder Gutdünken der Führungskräfte bestimmt wurden und daher selbst bei vergleichbaren Tätigkeiten ein großes Gefälle besteht, ist in der Tat Transparenz als erster Schritt nicht ratsam. Bringt man in einem solchen Stadium Transparenz in die Organisation hinein, kann die Hölle losbrechen. Wenn jedoch die gemeinsame Basis und ein klares Verfahren vorhanden ist, dann ist auch Transparenz kein Problem. Denn der Vergleich ist dann keine Spekulation mehr. Manche New-Pay-Modelle erfordern einen hohen Grad an Selbstreflexion der Mitarbeiter. Etwa beim Wunschgehalt muss sich jeder selbst fragen: Was empfinde ich als gerecht und wieso? Die Antwort erfordert Transparenz nach innen jenseits von Selbstbetrug. Es geht um eine Selbstreflexion, die das Gesamtsystem mitdenkt. Derartige Lösungen für das eigene Gehaltsmodell benötigen einen hohen Grad an persönlicher und organisationaler Reife.

[1] Telefoninterview mit Stefan Liebig vom 5.3.2019.
[2] Joho, K. (2018), Warum Sie mit Kollegen nicht übers Gehalt reden sollten, online verfügbar unter: https://www.wiwo.de/erfolg/beruf/lohntransparenz-warum-sie-mit-kollegen-nicht-uebers-gehalt-reden-sollten/20852070.html, letzter Zugri...

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