Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. Summenbescheid. Schätzbescheid. fehlende Mitwirkung des Arbeitgebers an der Sachaufklärung. Schätzungsbefugnis des Rentenversicherungsträgers hinsichtlich der Höhe der Arbeitsentgelte. Anwendung eines Prozentsatzes von 66,67% (zwei Dritteln) des Nettoumsatzes als Nettolohnsumme zur Ermittlung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge auch im Bereich des lohnintensiven Gebäudereinigerhandwerks
Leitsatz (amtlich)
1. Sofern keine anderweitigen verlässlichen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu beschaffen sind, sowie keine betriebswirtschaftlichen Parameter festzustellen sind, die eine konkrete Berechnung der Höhe der Arbeitsentgelte ermöglichen, ist die Antragsgegnerin zur Schätzung der Höhe des Arbeitsentgelts berechtigt gemäß § 28f Abs 2 Satz 3 SGB IV. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sämtliche erreichbaren Ermittlungsansätze in vollem Umfang ausgeschöpft wurden und die Antragstellerin nicht an der Sachaufklärung mitwirkt.
2. Gegen die Anwendung eines Prozentsatzes von 66,67% (zwei Dritteln) des Nettoumsatzes als Nettolohnsumme zur Ermittlung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge bestehen auch im Bereich des lohnintensiven Gebäudereinigerhandwerks keine grundsätzlichen Bedenken. Die Schätzergebnisse müssen hinsichtlich aller Bemessungsgrundlagen tatsachenfundiert, wirtschaftlich vernünftig und nachvollziehbar sein und im Rahmen der Gesamtwürdigung den Zweifelssatz beachten.
Tenor
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 16. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 145.889,44 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen einen Betriebsprüfungsbescheid der Antragsgegnerin, mit dem diese sie für die Zeit vom 01.04.2004 bis 30.06.2008 auf Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen sowie darauf entfallender Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 583.557,77 € in Anspruch nimmt.
Der 1964 geborene Z... ist einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer der Antragstellerin, seine Ehefrau Y... Alleingesellschafterin. Unternehmensgegenstand ist das Glas- und Gebäudereinigerhandwerk und die Erbringung damit in Zusammenhang stehender Dienstleistungen. Zwischen der Antragstellerin und der Y... e. K. Bauen und Verwalten, vormals Raumpflegeservice X... & Co oHG besteht seit 01.01.2001 ein Pacht- und Unternehmensführungsvertrag bzw. seit 01.01.2005 ein Betriebsführungs- und Pachtvertrag. In ersterem war unter § 3 Abs. 1 Pachtzins und Verwaltungsgebühr geregelt: „Der jährliche Pachtzins und die Verwaltungsgebühr betragen 15 % der Anschaffungs- und Herstellungskosten der verpachteten Gegenstände des Anlagevermögens Anlage 1, der Kosten der Leasingwirtschaftsgüter (Leasinggebühren, Kfz-Steuer und Versicherungskosten sowie 15 % des Jahresumsatzes der Pächterin für Verwaltungsleistungen Anlage 2. Die Umsatzsteuer entfällt aufgrund des Vorliegens einer Organschaft (Innenumsatz).“ In letzterem ist unter § 4 Gegenleistung geregelt: „Die Betriebsgesellschaft verpflichtet sich, der Besitzgesellschaft als Gegenleistung für die Überlassung des Vertragsgegenstandes und die Führung des Betriebes einen jährlichen Pachtzins wie folgt (zu zahlen) [Anm. d. Senats]: 1. Die Verwaltungsgebühr beträgt 7 % auf den Jahresumsatz. 2. Die Wirtschaftsgüter werden gemäß Berechnung laut Anlage 1 mit 6 % der Anschaffungs- und Herstellungskosten bzw. für den tatsächlichen Leasingsaufwand zuzüglich der tatsächlich entstandenen Kosten für Versicherungen und Kfz-Steuern verpachtet. Die Berechnung erfolgt jährlich neu. Zu- und Abgänge im Anlagevermögen werden anteilig auf die Monate berechnet. 3. Der Gesamtaufwand für Verwaltungsgebühr und Pacht wird auf maximal 100.000 € jährlich beschränkt. ...“
Das Hauptzollamt W... (HZA) führte am 19.09.2007 eine Prüfung gemäß §§ 2 ff. Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG) und § 2 Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) am Unternehmenssitz der Antragstellerin in V... durch. Bei der ersten Durchsicht der durch die S.../K... Steuerberatungsgesellschaft mbH zur Verfügung gestellten Geschäftsunterlagen der Antragstellerin stellte das HZA fest, dass betreffend den Abrechnungszeitraum April 2006 bis Juli 2007 in 131 Fällen der vorgeschriebene Mindestlohn für Gebäudereiniger nicht gezahlt worden sei. In Vollzug der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse des Amtsgerichts U... vom 15.04.2008 beschlagnahmte das HZA daraufhin am 16.07.2008 Geschäftsunterlagen der Antragstellerin, wertete diese aus, führte anschließend eine Zeugenvernehmung von 17 Reinigungskräften und Verwaltungsangestellten der Antragstellerin durch und leitete Ermittlungsverfahren gegen fünf weitere Arbeitnehmer wegen Leistungsbetrugs ein. Das HZA beschrieb im We...