Rz. 28
Behinderte Menschen, die keine Aufnahme in Werkstätten finden, können in Einrichtungen gefördert werden, die den Werkstätten räumlich angegliedert sind. Solche Einrichtungen werden auch als Einrichtungen "unter dem verlängerten Dach" der Werkstatt bezeichnet. Sie sind nicht rechtlicher Teil der Werkstätten. In diesen Einrichtungen geförderte behinderte Menschen haben keinen Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgeltes aus dem Arbeitsergebnis der Werkstätten, sie sind auch nicht sozialversichert. Das gilt auch für die gesetzliche Unfallversicherung (BSG, Urteil v. 18.1.2011 B 2 U 9/10 R; Leitsatz: Behinderte Menschen, die wegen fehlender Werkstattfähigkeit im Förder- und Betreuungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen betreut werden, sind nicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII unfallversichert).
Das BSG sieht hierin weder einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden dürfe, noch eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Versicherungstatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII knüpfe weder direkt noch mittelbar an die Behinderung, sondern an das Merkmal einer Tätigkeit in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen und damit u. a. an den Ort der Tätigkeit an. Der Gleichheitssatz sei nicht verletzt, weil eine Ungleichbehandlung der in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen Tätigen und in einem Förder- und Betreuungsbereich betreuten behinderten Menschen sachlich gerechtfertigt sei.
Rz. 29
Aus Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention wird die Forderung hergeleitet, in § 136 (ab 1.1.2018 § 219) Abs. 2 Satz 1 den Begriff "Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung" zu streichen, weil mit Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention eine Unterscheidung zwischen "werkstattfähigen" und "nichtwerkstattfähigen" behinderten Menschen nicht vereinbar sei (Positionspapier von 15 Sozialverbänden v. 26.10.2011).
Die Bundesregierung hat in einer Antwort auf eine Frage des Mitglieds des Deutschen Bundestages, des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (Fraktion DIE LINKE) ausgeführt, dass eine solche Forderung aus Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention nicht abgeleitet werden könne (Plenarprotokoll der 148. Sitzung des Deutschen Bundestages v. 14.12.2011, Anlage 43, S. 17757).
Rz. 30
In der amtlichen deutschen Übersetzung heißt es, "die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit". Hieraus wird ein unabdingbarer Rechtsanspruch auf Arbeit geschlussfolgert. Die deutsche Übersetzung ist insoweit jedoch unpräzise. In der englischen und der französischen Übersetzung heißt es "on an equal basis with others" bzw. "sur la base de l’égalité avec les autres". Aus diesen Übersetzungen erschließt sich eine wesentliche Einschränkung: nämlich ein Recht auf Arbeit, soweit eine Grundlage (Basis) dafür gegeben ist. Grundlage muss sein, dass überhaupt "Arbeitsfähigkeit" gegeben ist. Behinderte Menschen, die aus den in Abs. 2 Satz 2 beschriebenen Gründen nicht in eine Werkstatt für behinderte Menschen aufgenommen werden können, liegt eine solche Grundlage, also die Fähigkeit zur Teilhabe am Arbeitsleben, nicht vor.
Rz. 31
Mit Art. 1 des BTHG ist mit Wirkung zum 1.1.2018 in Absatz 3 ein Satz 2 angefügt worden. Diese Regelung ermöglicht den Werkstätten, diejenigen Menschen mit Behinderungen, die nicht in der Lage sein, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen und deshalb in Einrichtungen "unter dem verlängerten Dach" der Werkstatt betreut und gefördert werden, dort aber keine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, sondern Leistungen der Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhalten, gemeinsam mit den Werkstattbeschäftigten in der Werkstatt zu betreuen und zu fördern. Damit sollten die Möglichkeiten der Heranführung schwerstmehrfachbehinderter Menschen an die Angebote der Werkstätten, nämlich berufliche Bildung und Beschäftigung, verbessert werden.
Im Gesetzgebungsverfahren zum BTHG hatten Verbände der Behindertenhilfe nachdrücklich gefordert, die heutige Abgrenzung zwischen "werkstattfähigen" und "nicht werkstattfähigen" Menschen mit Behinderungen aufzugeben und auch diesen Menschen eine Teilhabe am Arbeitsleben zu gewährleisten. Diesen Forderungen ist der Gesetzgeber auch in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht nachgekommen. Er hat es weiterhin für erforderlich angesehen, dass Menschen, die am Arbeitsleben, auch an einem Ort des Arbeitslebens wie einer Werkstatt für behinderte Menschen teilnehmen, auch zur Erbringung einer Arbeitsleistung überhaupt in der Lage sein müssten. Auch Werkstätten seien nicht ausschließlich Rehabilitationseinrichtungen, sondern auch Orte der Beschäftigung.
Deshalb ist auch mit dem BTHG die Förderung dieser Personen im Rahmen des Abs. 2 Satz 2 nicht mit einer formalen Aufnahme in die Werkstatt für behinderte Menschen und auch nicht mit einer Einbeziehung in den gesetzlichen Rechtsstatus vo...