Rz. 8
§ 3 trägt die Überschrift "Vorrang von Prävention". Unter Prävention versteht man alle medizinischen und sozialen Anstrengungen, die Gesundheit zu fördern (health promotion) und Krankheit und Unfälle sowie deren Folgen- hierzu zählen auch Behinderungen – zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern.
Die Prävention i. S. d. § 3 soll dazu beitragen, bereits im Frühstadium sich abzeichnende Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe zu erkennen. Sie hat zum Ziel, das Fortschreiten gesundheitsbeeinträchtigender Prozesse, die zu Chronifizierung und Behinderung führen können, zu verringern, aufzuhalten bzw. zu verhindern sowie gesundheitsgefährdende Belastungen abzubauen und Ressourcen zu stärken. Die Vorschrift enthält keinen gesetzlichen Auftrag über konkrete Maßnahmen, sondern überlässt den Rehabilitationsträgern ausreichend Raum zu Umfang und Ausgestaltung.
Der Prävention i. S. d. SGB IX liegt das Denkmodell der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit; vgl. hierzu auch die Komm. zu § 2) zugrunde. Im Sinne der ICF ist Behinderung vor allem eine Beeinträchtigung der Teilhabe und entsteht aus dem ungünstigen Zusammenwirken von gesundheitlichen Problemen einer Person und ihrem Lebensumfeld.
Bei der Prävention i. S. d. § 3 erlangen auch die Kontextfaktoren (= gesamter Lebenshintergrund eines Menschen) eine besondere Bedeutung. Die Kontextfaktoren erfassen alle gesundheitsfördernden und -hemmenden Lebensumfeldfaktoren des Einzelnen (Arbeitsplatz, Bezugspersonen, Wohnverhältnisse und Lebensweise). Durch die Prävention sollen diese so gestaltet oder das Verhalten des Einzelnen so positiv beeinflusst werden, dass dem behinderten bzw. dem von Behinderung bedrohten Menschen (auch dem chronisch kranken Menschen) möglichst lange eine hohe Lebensqualität und eine hohe Aktivität bei den Verrichtungen des individuellen Alltags verbleiben. Außerdem soll durch die Prävention so lange wie möglich Pflegebedürftigkeit vermieden werden.
Menschen gelten als rehabilitationsbedürftig, sobald aus gesundheitlichen Gründen eine drohende oder bereits manifeste Beeinträchtigung der Teilhabe den über die kurative Versorgung hinausgehenden mehrdimensionalen und interdisziplinären Ansatz der Rehabilitation erforderlich macht.
Rz. 9
Nach einem Vorschlag der "Commission on Chronic Illness", USA, aus dem Jahre 1955 wird auch in Deutschland im Hinblick auf den Krankheitsbegriff zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention unterschieden. Der Begriff Prävention umfasst danach auch Maßnahmen, die das Fortschreiten einer Krankheit verhindern oder verlangsamen bzw. Rezidive (z. B. Rückfälle) verhindern sollen. Bei genauerer Betrachtung unterscheidet das Leistungsspektrum des SGB IX auch nicht zwischen behinderten Menschen einerseits und Menschen mit einer drohenden Behinderung andererseits. Deshalb wird weit überwiegend auch die Meinung vertreten, dass selbst behinderte Menschen noch Präventionsleistungen i. S. d. § 3 erhalten können – und zwar mit dem Ziel, der negativen Weiterentwicklung einer bereits eingetretenen Behinderung vorzubeugen.
Eine Behinderung ist regelmäßig eine Folge von Krankheit. Um eine Behinderung oder ihre Verschlimmerung zu verhüten, ist in erster Linie eine Krankheit positiv zu beeinflussen – nämlich mit dem Ziel, eine Behinderung zu minimieren oder bei einer drohenden Behinderung die Behinderung nicht eintreten zu lassen. Inwieweit die auf eine Krankheit ausgerichteten Grundbegriffe der primären, sekundären und tertiären Prävention auch bei § 3 von Bedeutung sind, wird nachstehend untersucht.
2.1.1 Primäre Prävention
Rz. 10
Unter primärer Prävention versteht man
- die Förderung der Gesundheit und die Verhütung von Krankheiten durch Beseitigung eines oder mehrerer ursächlicher Faktoren oder
- die Erhöhung der Resistenz des betroffenen Menschen oder
- die Veränderung von Umweltfaktoren, die ursächlich oder als Überträger an der Krankheitsentstehung beteiligt sind.
Die möglichen Maßnahmen im Bereich der primären Prävention sind vielfältig und können
- unspezifisch (= auf die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen abgestellt; z. B. gute Ernährung, sauberes Wasser, adäquate Kleidung und Wohnung, Umweltschutzmaßnahmen, Hygienemaßnahmen, Impfungen zum Schutz vor Krankheiten etc.) oder
- spezifisch (auf den Einzelnen ausgerichtet, z. B. Impfungen oder Einschränkung des Alkoholkonsums)
sein. Die primäre Prävention ist auf die Erhaltung der Gesundheit ausgerichtet. Die primäre Prävention zielt in erster Linie auf die Verhütung der Entstehung von Krankheiten und zunächst nicht auf die Verhütung der Entstehung von Behinderungen.
2.1.2 Sekundäre Prävention
Rz. 11
Unter sekundärer Prävention versteht man die Krankheitsfrüherkennung. Es geht darum, Krankheiten in der präklinischen Phase – also wenn subjektiv noch keine oder nur sehr schwach ausgeprägte Beschwerden/Funktionseinbußen (Symptome) vorhanden sind – wahrzunehmen. Zur Früherkennung bedient man sich sog. Screenings (Filteruntersuchungen). Dadurch können Krankheiten, die bereits im Frühstadi...