Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Abfindung einer Verletztenrente. Ermessensentscheidung des Unfallversicherungsträgers. Ermessenabwägung. Ermessensfehler. Interessenabwägung. Prognoseentscheidung. ausreichende Lebenserwartung des Versicherten
Leitsatz (amtlich)
Die Abfindung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung steht im Ermessen des Unfallversicherungsträgers.
Bei seiner Entscheidung hat der Unfallversicherungsträger die berechtigten Interessen des Versicherten, der Unfallversicherungsträger und der Allgemeinheit zu wahren und gegeneinander abzuwägen.
Die Prognoseentscheidung des Unfallversicherungsträgers über eine ausreichende Lebenserwartung des Versicherten im Hinblick auf den Abfindungszeitraum unterliegt die vollen gerichtlichen Überprüfung. Abzustellen ist insoweit auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (Anschluss an LSG Darmstadt vom 28.01.2020 - L 3 U 90/17 = ASR 2020, 73 und LSG Stuttgart vom 10.02.2005 - L 6 U 2063/04 = HVBG-INFO 2005, 333).
Orientierungssatz
Die Abfindung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung steht im Ermessen des Unfallversicherungsträgers.
Bei seiner Entscheidung hat der Unfallversicherungsträger die berechtigten Interessen des Versicherten, der Unfallversicherungsträger und der Allgemeinheit zu wahren und gegeneinander abzuwägen.
Die Prognoseentscheidung des Unfallversicherungsträgers über eine ausreichende Lebenserwartung des Versicherten im Hinblick auf den Abfindungszeitraum unterliegt die vollen gerichtlichen Überprüfung. Abzustellen ist insoweit auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (Anschluss an Hess. LSG vom 28.01.2020 - L 3 U 90/17 - und LSG Baden-Württemberg vom 10.02.2005 - L 6 U 2063/04 - ≪jeweils juris≫).
Tenor
Der Bescheid vom 23. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2019 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte erstattet dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Abfindung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung umstritten.
Der am 10.05.1963 geborene Kläger erlitt am 07.08.2013 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte bewilligte ihm zunächst Verletztenrente als vorläufige Entschädigung (Bescheid vom 19.03.2015) und sodann auf unbestimmte Zeit (Bescheid vom 04.07.2016), jeweils nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. der Vollrente. Dem Widerspruch des Klägers gab die Beklagte teilweise statt und bewilligte ab dem 04.02.2015 Verletztenrente nach einer MdE um 50 v.H. der Vollrente. Als Unfallfolgen anerkannte sie:
- Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes sowie leichte Fehlstellung des Sternoklavikulargelenkes nach Bankartläsion an der linken Schulter.
- Bewegungseinschränkung der Brust- und Lendenwirbelsäule, röntgenologisch nachgewiesene Veränderungen im Sinne einer beginnenden Spondylarthrose sowie Muskelverspannungen im Bereich der Lendenwirbelsäule nach Fraktur des 1. Lendenwirbelkörpers sowie Querfortsatzfraktur des 2. Lendenwirbelkörpers mit nachfolgender Spondylodese im Bereich Th 12/L 1 bei noch einliegendem Material.
- Kompensierte neurogene Blasenfunktionsstörung.
Keine Unfallfolgen seien degenerative Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule mit Bandscheibenvorfall im Segment C 3/C 4 mit Einengung des Spinalkanales, degenerative Veränderungen im Bereich der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule und eine Baastrup-Spondylose im Segment L 4/L 5; auch eine erektile Dysfunktion sei nicht ursächlich auf das Unfallereignis oder dessen Folgen zurückzuführen, weil auch unfallunabhängige Risikofaktoren für diese Gesundheitsstörung wie z. B. langjähriger exzessiver Nikotinabusus, Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte und eine Zweigefäßerkrankung bei Zustand nach Herzinfarkt nachgewiesen seien (Bescheid vom 07.03.2017).
Am 11.04.2018 beantragte der Kläger die Abfindung seiner Verletztenrente. Die Beklagte leitete Ermittlungen zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen ein, zog die Schwerbehindertenakte des Landratsamts X, über die AOK Y das Gutachten der Pflegefachkraft K. vom September 2017 und über den Internisten B. Laborwerte bei. Danach ließ sie den Kläger durch den Internisten Dr. N. untersuchen und begutachten. Diesem gegenüber gab der Kläger anamnestisch u.a. an, er rauche seit 1984 mit kurzen Pausen von wenigen Wochen ca. 15 bis 20 Zigaretten täglich. Sein Vater sei mit 62 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben, seine Mutter, die mit 75 Jahren an Altersschwäche verstorben sei, habe unter Durchblutungsstörungen gelitten. Seine beiden Brüder seien mit 72 Jahren an Durchblutungsstörungen bzw. mit 62 Jahren an einem plötzlichen Herztod verstorben. Dr. N. diagnostizierte auf internistischem Fachgebiet einen Zustand nach Nicht-ST-Hebungsinfarkt mit Stentversorgung bei aktuell kardiale...