Rz. 4
Die Vorschrift richtet sich in erster Linie an die Krankenkassen bei der Leistungsgewährung und ist auf die Fälle der Leistungsgewährung, also das Leistungsrecht, beschränkt. Sie kann und will also keine Differenzierung nach dem Geschlecht im Versicherungs- oder Beitragsrecht begründen (so auch Bittner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 2b Rz. 16, Stand: 11.12.2023). Die Regelung verlangt, dass geschlechtsspezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen ist. Geschlechtsspezifische Besonderheiten sind insbesondere die medizinischen und biologischen Unterschiede von Männern und Frauen in der Anatomie, des Hormonhaushalts, des Stoffwechsels, der Psyche etc.; dies schließt die jeweilige altersgemäße körperliche und seelische Entwicklung ein. Dementsprechend ist auch schon bei der ärztlichen Behandlung und Medikation (ohnehin) auf diese geschlechtsspezifischen Unterschiede abzustellen. Vor dem Hintergrund der Zwecksetzung des Präventionsgesetzes sind aber auch geschlechtsspezifische Besonderheiten und Unterschiede gerade hinsichtlich von Krankheitsrisiken, im Verhalten bezüglich der Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) und des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten (Gesundheitsförderung) als geschlechtsbezogene Besonderheit zu berücksichtigen (verhaltensbezogene Prävention nach § 20 Abs. 4 Nr. 1). Auch der Gemeinsame Bundesausschuss wird über § 139a Abs. 3 Nr. 2 verpflichtet, bei der Erstellung von wissenschaftlichen Ausarbeitungen, Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Qualität und Wirtschaftlichkeit der im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erbrachten Leistungen alters- und geschlechtsspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen.
Rz. 5
Die Regelung stellt, anders als z. B. § 19a SGB IV (vgl. Komm. dort) nicht auf die sexuelle Orientierung, sondern allein auf die biologische Zugehörigkeit oder Zuordnung ab. Dafür spricht, neben der sich aus der biologischen Zuordnung ergebenden gesundheitsspezifischen Unterscheidung zwischen Männern und Frauen, insbesondere, dass sich auch in der Gesetzesbegründung keine Aussage zur sexuellen Orientierung und auch nicht zu Trans- oder Intersexuellen befindet. Es erscheint schon fraglich, ob vor dem Hintergrund und der Zwecksetzung des Präventionsgesetzes bei der Prävention nach den §§ 20 ff. die sexuelle Orientierung an sich ein Kriterium für Präventionsleistungen sein kann. Ob und inwieweit bei Trans- oder Intersexuellen ein Leistungsanspruch auf (besondere) Präventionsmaßnahmen besteht, werden erst die Festlegungen des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen nach § 20 Abs. 2 zeigen, die die Krankenkassen bei ihren Satzungsregelungen zu berücksichtigen haben (§ 20 Abs. 1 Satz 3). Insbesondere bei Trans- oder Intersexuellen gelten für die Leistungsansprüche und deren Umfang die allgemeinen, an den Krankheitsbegriff des § 27 anknüpfenden gesetzlichen Regelungen (vgl. BSG, Urteil v. 4.3.2014, B 1 KR 69/12 R; SG Koblenz, Urteil v. 8.4.2021, S 1 KR 1781/19; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 29.6.2022, L 5 KR 1811/21).
Rz. 5a
Das BSG geht in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung unter Beachtung der Entscheidung des BVerfG zum Personenstandsrecht (BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017, 1 BvR 2019/16) sowie unter Bezugnahme auf die aktuelle S3-Leitlinie "Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung und Behandlung" nicht mehr davon aus, dass es sich bei Transsexualismus um eine behandlungsbedürftige psychische Krankheit handelt. Vielmehr soll nun der durch die Geschlechtsinkongruenz begründete, klinisch-relevante Leidensdruck maßgeblich für die Frage eines Sachleistungsanspruchs gegenüber der Krankenkasse sein. Eine Maßnahme bei der Diagnose und Behandlung eines durch Geschlechtsinkongruenz verursachten Leidensdrucks stellt jedoch eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar, die dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt nach § 135 unterfällt, sodass ohne positive Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses kein Anspruch besteht (vgl. grundlegend BSG, Urteil v. 19.10.2023, B 1 KR 16/22 R). Diese Entscheidung erweist sich in ihrer Begründung und in ihren Auswirkungen auf die Praxis durchaus als problematisch. Begrüßenswert erscheint zunächst, dass sich das BSG angesichts der aktuellen in der Gesellschaft und auch der (medizinischen) Wissenschaft vorherrschenden Diskussion zur geschlechtlichen Vielfalt/Geschlechterordnung und Gendergerechtigkeit diesen Entwicklungen nicht verschließt und seine bisherige Rechtsprechung bzw. Auslegung des Erkrankungsbegriffs einer erneuten Prüfung unterzieht. Gerade auch im Hinblick auf eine Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des BVerfG erscheint es daher folgerichtig, die "Transsexualität" nicht mehr einer (psychischen) Krankheit gleichzustellen. Auch das Abstellen auf einen durch die Geschlechtsinkongruenz begründeten, klinisch-relevanten Leidensdruck, der der Erkrankungsdefinition – wohl als psychische Erkrankung – unterfällt, ist...