Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 2
Die Vorschrift stellt die Rechtsgrundlage dafür dar, einen arbeitsunfähigen Arbeitnehmer individuell, d. h. je nach Krankheit und bisheriger Dauer der Arbeitsunfähigkeit schonend, aber kontinuierlich bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit an die Belastungen seines Arbeitsplatzes heranzuführen. Sie beinhaltet keinen Anspruch auf Teilnahme an einer Wiedereingliederungsmaßnahme. Das beruht darauf, dass es kein Leistungsmodell des Trägers, sondern ein der ärztlichen Verordnung folgendes Handlungsmodell ist (Sichert, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 74 Rz. 1). Die stufenweise Wiedereingliederung ist mit Blick auf das Reha-Ziel ein einzubeziehender Bestandteil einer einheitlichen Gesamtmaßnahme, den Betreffenden in den Arbeitsprozess zurückzuführen (BSG, Beschluss v. 29.1.2008, 5a/5 R 26/07 R). Der Arbeitnehmer erhält die Möglichkeit, sich wieder an seine Arbeit zu gewöhnen und seine Belastbarkeit entsprechend dem Stand der wieder erreichten körperlichen, geistigen und seelischen Leistungsfähigkeit zu steigern. Dabei soll die Phase der Wiedereingliederung i. d. R. einen Zeitraum von 6 Monaten nicht überschreiten. Für die Vorschrift bleibt charakteristisch, dass der Arbeitnehmer weiterhin arbeitsunfähig ist. Er ist mithin bei der stufenweisen Wiedereingliederung nicht verpflichtet, eine bestimmte Tätigkeit im Wiedereingliederungsverfahren zu übernehmen. Auch der Arbeitgeber unterliegt keinem Zwang zur Wiedereingliederung eines arbeitsunfähigen Arbeitnehmers. Daraus folgt, dass das Recht der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle, welches den Begriff der teilweisen Arbeitsunfähigkeit nicht kennt, bei der stufenweisen Wiedereingliederung keine Anwendung findet. Ziele der Wiedereingliederung sind vielmehr Gesichtspunkte der Rehabilitation des Arbeitnehmers (vgl. auch BT-Drs. 11/2237 S. 192). Ihm wird die Gelegenheit gegeben, zu erproben, ob er auf dem Wege einer im Verhältnis zur geschuldeten Arbeitsleistung quantitativ oder/und qualitativ verringerten Tätigkeit zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit gelangen kann. Die Maßnahme des § 74 ist keine Sachleistung der Krankenversicherung, sondern bleibt eine medizinische Reha-Maßnahme, wofür schon die systematische Stellung spricht. Das Wiedereingliederungsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber lässt sich gegenüber dem Arbeitsverhältnis als ein solches eigener Art bezeichnen (BAG, Urteil v. 21.8.2014, 8 AZR 619/13).
Rz. 3
Die Regeln der stufenweisen Wiedereingliederung ergeben sich aus der Anlage zu den Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien. Die Richtlinien verdeutlichen ebenfalls, dass die therapeutischen Gründe bei dem Prozess der Wiedereingliederung die entscheidende Rolle spielen, weil sie eine Anpassung oder einen Abbruch der Wiedereingliederung vorsehen, wenn die regelmäßigen vertragsärztlichen Untersuchungen nachteilige Folgen für den Arbeitnehmer erkennen oder befürchten lassen.
Rz. 4
Mit der Einfügung der Sätze 2 und 3 soll nach der Gesetzesbegründung die Option für Versicherte gestärkt werden, bei längerer Erkrankung stufenweise in das Arbeitsleben zurückzukehren. Dazu werden Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, künftig ab einer bescheinigten Dauer der Arbeitsunfähigkeit von 6 Wochen die Möglichkeit einer stufenweisen Wiedereingliederung regelmäßig zu prüfen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dazu bis zum 30.11.2019 in seiner Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie das Verfahren zur regelmäßigen Feststellung über eine stufenweise Wiedereingliederung nach Satz 2 festzulegen.