Rz. 9

Sowohl im Falle der ordentlichen Kündigung nach Abs. 1 Satz 1 als auch im Falle der außerordentlichen Kündigung nach Abs. 2 Satz 1 stellt der Gesetzgeber aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung dieser Bestimmungen als "Kann-Regelung" die Entscheidung der Landesverbände der Pflegekassen über eine Kündigungsmaßnahme in deren Ermessen. Liegen hiernach die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Kündigung im Einzelfall vor, haben die Landesverbände der Pflegekassen vor einer abschließenden Entscheidung stets in pflichtgemäßer Ermessensausübung die widerstreitenden Interessen der Pflegeeinrichtung an der Fortsetzung des Versorgungsvertrages einerseits und die Interessen der Kostenträger an einer Beendigung der Vertragsbeziehungen andererseits abzuwägen (Handlungsermessen). Im Rahmen dieses Abwägungsprozesses gilt es wegen der Grundrechtsrelevanz einer jeden Kündigungsmaßnahme für die Pflegeeinrichtung (Art. 12, 14 GG) bei jeder Entscheidung auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot zu beachten (vgl. auch Rz. 9). Generell lässt sich hieraus als Handlungsmaxime für die gebotene Ermessensausübung der Landesverbände der Pflegekassen herleiten, dass eine Kündigung des Versorgungsvertrages nur in Betracht kommt, soweit alle anderen, insbesondere mildere Handlungsoptionen ausscheiden.

Ausdrücklich Eingang gefunden hat der (allgemeingültige) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der gesetzlichen Regelung des Abs. 1 Satz 1 HS 1, wonach der nur vorübergehende Wegfall der dort in Bezug genommenen Zulassungsvoraussetzungen des § 72 die Landesverbände der Pflegekassen nicht zu einer ordentlichen Kündigung des Versorgungsvertrages berechtigt (vgl. Rz. 7). Praktische Bedeutung kann diesem Kündigungshindernis vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels vor allem zukommen, wenn wesentliche Mängel in der personellen Besetzung festgestellt werden (z. B. Wegfall einer verantwortlichen Pflegefachkraft), die von der Pflegeeinrichtung nicht zeitnah behoben werden können bzw. konnten. Überhaupt wäre eine Kündigung bei sachgerechter Ermessensausübung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich nicht vereinbar, wenn die Pflegeeinrichtung die ihr zur Last gelegten Pflicht- oder Vertragsverletzungen wegen fehlenden Verschuldens nachweislich nicht zu verantworten hat (vgl. hierzu auch BT-Drs. 12/5262 S. 138). Mit der gesetzlich eingeräumten Vereinbarungsoption des Abs. 1 Satz 3 als milderes Mittel gegenüber der Kündigung (vgl. Rz. 17) trägt der Gesetzgeber in weiterer Weise dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung. Kommt es im Rahmen von Qualitätsprüfungen zur Feststellung von Qualitätsmängeln, haben sich die Landesverbände der Pflegekassen ebenfalls aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vor einer Kündigung in ihrer Entscheidung über geeignete Maßnahmen zur Mängelbeseitigung an dem gestaffelten Verfahren nach Maßgabe des § 115 Abs. 2 auszurichten (Auswahlermessen).

 

Rz. 10

Eine fehlerfreie Ermessensausübung durch die Landesverbände der Pflegekassen setzt ungeachtet der generellen Anhörungspflicht nach § 24 SGB X (vgl. hierzu Rz. 13) schon wegen der hiermit untrennbar verbundenen Abwägung der beteiligten Interessen denknotwendig voraus, dass die betroffene Pflegeeinrichtung vor einer abschließenden Entscheidung zu den tragenden Gründen der beabsichtigten Kündigungsmaßnahme gehört wird.

 

Rz. 11

Weitreichende Bedeutung kommt dem Anspruch der Pflegeeinrichtung auf fehlerfreie Ermessensausübung bei Kündigungsmaßnahmen in der Praxis vor allem in Fällen der ordentlichen Kündigung zu.

Geht man mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem Bedeutungsgehalt der außerordentlichen Kündigungsregelung des Abs. 2 Satz 1 davon aus, dass (bereits) bei Prüfung der Kündigungsvoraussetzungen in der Frage des Vorliegens einer gröblichen Pflichtverletzung durch die Pflegeeinrichtung als hinreichendem Auslöser für die Unzumutbarkeit einer Vertragsfortsetzung für die Landesverbände der Pflegekassen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen hat und das Übermaßverbot zu beachten ist (so BSG, Urteil v. 12.6.2008, B 3 P 2/07 R, vgl. auch Rz. 9), bleibt unter Heranziehung dieser Bewertungsmaßstäbe in Fällen der außerordentlichen Kündigung bei Feststellung der gesetzlichen Kündigungsvoraussetzungen in aller Regel für ein Handlungsermessen kein Raum ("Ermessensreduzierung auf Null"). Das BSG hat diese Frage in seiner vorerwähnten Entscheidung v. 12.6.2008 allerdings ausdrücklich offengelassen.

Kündigungsmaßnahmen, die von den Landesverbänden der Pflegekassen ohne erkennbare Ausübung des ihnen im Einzelfall zustehenden Ermessens getroffen werden, sind schon aus diesem Grund rechtswidrig. Daher ist es für die Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung unverzichtbar, dass diese in ihrer Begründung auch die Gesichtspunkte erkennen lässt, von denen die Entscheidungsträger bei Ausübung ihres Ermessens ausgegangen sind (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Eine diesen Voraussetzungen genügende Mitteilung werden bloße "formelhafte" A...

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