Rolle des Integrationsamts bei Kündigung schwerbehinderter Menschen
Kommt es zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen, bedarf diese grundsätzlich der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes (§ 168 SGB IX). Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung ohne Unterbrechung bereits länger als 6 Monate besteht (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX).
Der Arbeitgeber hat zudem bei Eintreten personen-, verhaltens- oder betriebsbedingter Schwierigkeiten, die zur Gefährdung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebsrat und auch das Integrationsamt einzuschalten, um alle Möglichkeiten zu erörtern, das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortsetzen zu können (§ 167 Abs. 1 SGB IX).
Wann muss das Integrationsamt vor Ausspruch einer Kündigung zustimmen?
Das Zustimmungserfordernis nach § 168 SGB IX gilt grundsätzlich bei jeglicher Art von Kündigung eines Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten Menschen. Es gibt jedoch auch Ausnahmen. Folgendes ist zu beachten:
Objektives Vorliegen der Schwerbehinderung
Zustimmungsbedürftig ist die Kündigung schwerbehinderter und diesen gleichgestellter behinderter Menschen (§ 151 i. V. m. § 2 SGB IX), mithin die Kündigung von Menschen
- mit einem Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 oder
- mit einem GdB von weniger als 50, aber wenigstens 30, die aufgrund behördlicher Entscheidung schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sind.
Zeitpunkt der Schwerbehinderung
Maßgeblich ist grundsätzlich, ob
- der Status als Schwerbehinderter zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits anerkannt ist oder
- der Arbeitnehmer den Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung mindestens 3 Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt hat, sofern das Versorgungsamt den Schwerbehindertenstatus später dann ohne Verschulden des Arbeitnehmers rückwirkend auf einen Zeitpunkt vor Kündigungszugang zuspricht.
Der Bescheid zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft hat somit letztlich nur deklaratorische Bedeutung.
Offenkundige Schwerbehinderung
Zustimmungsbedürftig kann eine Kündigung zudem auch im Einzelfall ohne ausdrückliche Feststellung der Schwerbehinderung dann sein, wenn die Schwerbehinderung einschließlich eines GdB von mindestens 50 offenkundig ist.
Bei der Gleichstellung kommt es dagegen auf den konstitutiv wirkenden Gleichstellungsbescheid an. Maßgeblich ist das Datum des Antragseingangs bei der Bundesagentur für Arbeit (§ 151 Abs. 2 SGB IX). Die Zustimmungsbedürftigkeit setzt somit frühestens mit dem Datum der Antragstellung ein.
Ausnahmen von der Zustimmungspflicht
Von der Zustimmungsbedürftigkeit macht der Gesetzgeber verschiedene Ausnahmen. So entfällt sie etwa bei Arbeitnehmern,
- deren Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung ohne Unterbrechung noch nicht länger als 6 Monate besteht (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) oder
- deren Arbeitsverhältnis durch Kündigung beendet wird, sofern sie das 58. Lebensjahr vollendet und einen Anspruch auf eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung auf Grund eines Sozialplans haben, wenn der Arbeitgeber ihnen die Kündigungsabsicht rechtzeitig mitgeteilt hat und sie der beabsichtigten Kündigung bis zu deren Ausspruch nicht widersprechen (§ 173 Abs. 1 Nr. 3a SGB IX).
Entsprechendes gilt bei Entlassungen, die aus Witterungsgründen vorgenommen werden, sofern die Wiedereinstellung der schwerbehinderten Menschen bei Wiederaufnahme der Arbeit gewährleistet ist (§ 173 Abs. 2 SGB IX), oder wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte (§ 173 Abs. 3 SGB IX).
Exkurs: Unwirksame Kündigung trotz fehlender Zustimmungspflicht bei unterlassenem Präventionsverfahren
Eine vor Ablauf der Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG, § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) ausgesprochene Kündigung kann allerdings auch aus anderen Gründen unwirksam sein. Denkbar ist hier insbesondere ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot zugunsten schwerbehinderter Arbeitnehmer. So dürfen nach § 164 Abs. 2 SGB IX Arbeitgeber schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Kündigungen, die gegen gesetzliche Diskriminierungsverbote verstoßen, sind gemäß § 134 BGB unwirksam, wenn sich nicht aus dem Gesetz anderes ergibt (BAG, Urteil v. 26.3.2015, 2 AZR 237/14).
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG zur Vorgängernorm des § 167 Abs. 1 SGB IX war ein Arbeitgeber allerdings während der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG nicht verpflichtet, das in § 167 Abs. 1 SGB IX bei Eintreten von Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen vorgeschriebene Präventionsverfahren durchzuführen (zuletzt: BAG, Urteil v. 21.4.2016, 8 AZR 402/14). In einer aktuellen Entscheidung distanzierte sich das Arbeitsgericht Köln nunmehr von der Rechtsprechung des BAG (ArbG Köln, Urteil v. 20.12.2023, 18 Ca 3954/23). Der Arbeitgeber, so das Arbeitsgericht, sei auch während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG verpflichtet, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Dies ergäbe sich aus Wortlaut, Systematik und Gesetzgebungshistorie sowie der gebotenen unionsrechtskonforme Auslegung der Norm. Die durch § 164 Abs. 2 SGB IX verbotene Diskriminierung sei indiziert, wenn der Arbeitgeber gegen seine Verpflichtung aus § 167 Abs. 1 SGB IX verstoße. Könne der Arbeitgeber die Indizwirkung des Pflichtverstoßes nicht widerlegen, seien entsprechende Kündigungen rechtsunwirksam.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Köln steht damit im Kontext zur EuGH-Entscheidung, wonach ein Arbeitgeber vor Ausspruch einer Probezeitkündigung, die erfolgen soll, weil der Arbeitnehmer auf Grund seiner Behinderung für seinen Arbeitsplatz ungeeignet ist, verpflichtet sei, zu prüfen, ob der Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz eingesetzt werden kann (EuGH, Urteil v. 10.2.2022, C-485/20).
Insofern empfiehlt es sich für alle Arbeitgeber, auch während der sechsmonatigen kündigungsschutzrechtlichen Wartezeit bei Auftreten verhaltens-, personen- und betriebsbedingter Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen auch das Integrationsamt einzuschalten.
Prüfungsvorgehen des Integrationsamtes
Unterliegt eine Kündigung der Zustimmungspflicht, beantragt der Arbeitgeber die Zustimmung zur Kündigung bei dem für den Sitz des Betriebs zuständigen Integrationsamt schriftlich oder elektronisch (§ 170 Abs. 1 SGB IX).
Beabsichtigt ein Arbeitgeber den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung, kann die Zustimmung zur Kündigung nur innerhalb von 2 Wochen beantragt werden (§ 174 Abs. 2 SGB IX). Maßgebend ist der Eingang des Antrags beim Integrationsamt. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt.
Das Integrationsamt hat den Sachverhalt sodann auf der Grundlage des Antragsinhalts zu ermitteln und aufzuklären. Grundsätzlich gilt dabei der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 SGB X). Im Gesetz verpflichtend vorgesehen ist die Einholung einer Stellungnahme der im Betrieb des Arbeitgebers errichteten Arbeitnehmervertretung (z. B. Betriebsrat) und der Schwerbehindertenvertretung sowie die Anhörung des Schwerbehinderten selbst (§ 170 Abs. 2 SGB IX). Das Integrationsamt hat zudem in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinzuwirken (§ 170 Abs. 3 SGB IX).
Vom Integrationsamt einzuhaltende Fristen
Bei seiner Entscheidung ist das Integrationsamt an verschiedene Fristen gebunden. So „soll“ es bei einer ordentlichen Kündigung seine Entscheidung, falls erforderlich aufgrund mündlicher Verhandlung, innerhalb eines Monats ab Antragseingang treffen (§ 171 Abs. 1 SGB IX).
Ist das Ermessen des Integrationsamtes im Falle einer nicht nur vorübergehenden Betriebseinstellung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX oder der Insolvenz nach § 172 Abs. 3 SGB IX eingeschränkt, so „ist“ die Entscheidung innerhalb eines Monats ab Antragstellung zu treffen (§ 171 Abs. 5 SGB IX). Andernfalls gilt die Zustimmung als erteilt.
Bei außerordentlichen Kündigungen „trifft“ das Integrationsamt seine Entscheidung innerhalb von 2 Wochen ab Antragseingang. Wird innerhalb dieser Frist eine Entscheidung nicht getroffen, gilt die Zustimmung wiederum als erteilt (§ 174 Abs. 3 SGB IX)
Frist zur Kündigung nach Entscheidung des Integrationsamtes
Erteilt das Integrationsamt seine Zustimmung zur ordentlichen Kündigung, kann der Arbeitgeber die ordentliche Kündigung nur innerhalb eines Monats nach Zustellung erklären (§ 171 Abs. 3 SGB IX). Die Kündigung muss dem Arbeitnehmer innerhalb dieser Frist zugehen. Bei einer außerordentlichen Kündigung hat der Arbeitgeber die Kündigung unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung zu erklären (§ 174 Abs. 5 SGB IX).
Rechtsmittel gegen den Bescheid des Integrationsamtes
Gegen den Bescheid des Integrationsamtes sind Widerspruch und Klage möglich. Ein gegen die Zustimmung zur Kündigung vom Arbeitnehmer eingelegter Widerspruch hat jedoch keine aufschiebende Wirkung (§ 171 Abs. 4 SGB IX). Der Arbeitgeber darf und muss die Kündigung somit (zunächst) aussprechen.
Prüfungsumfang des Integrationsamtes
Das Integrationsamt prüft im Rahmen des Antragsverfahrens lediglich, ob und inwieweit die Kündigung durch die besonderen Leiden des schwerbehinderten Menschen bedingt ist. Es entscheidet grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei sind die Interessen der Beteiligten auf der Grundlage des ermittelten Sachverhalts gegeneinander abzuwägen. Zu berücksichtigen ist dabei zu Gunsten des Arbeitnehmers regelmäßig
- der Schutz des behinderten Menschen aufgrund seiner besonderen Situation sowie
- seine Nachteile auf dem Arbeitsmarkt.
Auf der anderen Seite ist insbesondere das Interesse des Arbeitgebers an der freien und reibungslosen Gestaltung von Betriebsablauf und Organisation zu berücksichtigen.
Stehen die Kündigungsgründe im Zusammenhang mit der Behinderung, sind an die (Un-)Zumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses besonders hohe Anforderungen zu stellen. Je weniger die besondere Situation des schwerbehinderten Menschen für die Kündigung ursächlich ist, umso geringere Bedeutung darf das Integrationsamt in seiner Entscheidung der Behinderung zukommen lassen.
Die arbeitsrechtliche Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung, insbesondere ihre soziale Rechtfertigung nach dem KSchG, sind daneben vom Integrationsamt regelmäßig nicht zu prüfen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Kündigung nicht offensichtlich unwirksam ist.
Die Einhaltung der zweiwöchigen Antragsfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX ist hingegen allein vom Integrationsamt zu beurteilen. Die Arbeitsgerichte sind daran gebunden. Sie prüfen dann lediglich noch, ob die Kündigung unverzüglich im Sinne des §§ 174 Abs. 5 SGB IX erklärt wurde, d. h. ohne schuldhaftes Zögern nach Erteilung der Zustimmung zur Kündigung durch das Integrationsamt (BAG, Urteil v. 11.6.2020, 2 AZR 442/19).
Die Ermessensausübung des Integrationsamtes ist letztlich abhängig vom Kündigungsgrund. Dabei dürfte auch zu erwarten sein, dass die Einhaltung des § 167 Abs. 1 SGB IX, wonach bei Schwierigkeiten im Beschäftigungsverhältnis ein Präventionsverfahren unter Beteiligung auch des Integrationsamtes durchzuführen ist, bereits im Zustimmungsverfahren überprüft wird (VGH Kassel, Beschluss v. 23.6.2022, 10 A 883/21.Z).
Unterschiede nach Art der Kündigung
Betriebsbedingte Kündigung
Beabsichtigt der Arbeitgeber den Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung, ist die unternehmerische Entscheidung des Arbeitgebers, die zum Wegfall des Arbeitsplatzes geführt hat, grundsätzlich hinzunehmen. Umstände, die den schwerbehinderten Menschen nicht als Schwerbehinderter, sondern wie jeden anderen Arbeitnehmer treffen (z. B. das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Sozialauswahl), sind dem Prüfungsumfang des Integrationsamtes entzogen. Das Integrationsamt hat allerdings zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers, ggf. nach zumutbaren Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen, möglich erscheint.
Verhaltensbedingte Kündigung
Im Falle einer verhaltensbedingten Kündigung ist zu prüfen, inwieweit eine dem Arbeitnehmer vorgeworfene Pflichtverletzung seine Ursache gerade in der Behinderung hat sowie etwa, wie der Arbeitgeber dieses Verhalten in Zukunft ggf. verhindern kann. Auch wenn ein Zusammenhang zwischen Behinderung und Pflichtverletzung gegeben ist, kann je nach Einzelfall (z. B. bei grobem Fehlverhalten oder schweren Störungen des Betriebsfriedens) gleichwohl eine Zustimmung erfolgen.
Personenbedingte Kündigung
Auch hier zu prüfen, inwieweit der Kündigungswunsch des Arbeitgebers auf der Behinderung des schwerbehinderten Menschen beruht. Alternativ zur Kündigung kann hier aus Sicht des Integrationsamtes insbesondere die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz in Betracht kommen. Im Rahmen der Ermessensausübung kann insbesondere auch die fehlende vorherige Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) relevant werden.
Wann muss das Integrationsamt einer Kündigung zustimmen?
In gesetzlich näher definierten Fällen ist das Ermessen des Integrationsamtes eingeschränkt.
So „erteilt“ das Integrationsamt die beantragte Zustimmung bei Kündigungen in Betrieben, die nicht nur vorübergehend eingestellt oder aufgelöst werden, wenn zwischen dem Tag der Kündigung und dem Tag, bis zu dem Gehalt oder Lohn gezahlt wird, mindestens 3 Monate liegen (§ 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).
Unter den gleichen Voraussetzungen „soll“ es die Zustimmung auch bei Kündigungen in Betrieben erteilen, die nicht nur vorübergehend wesentlich eingeschränkt werden, wenn die Gesamtzahl der weiterhin beschäftigten schwerbehinderten Menschen zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht nach § 154 SGB IX ausreicht (§ 172 Abs. 1 Satz 2 SGB IX).
Darüber hinaus „soll“ das Integrationsamt die Zustimmung erteilen, wenn dem schwerbehinderten Menschen ein anderer angemessener und zumutbarer Arbeitsplatz gesichert ist (§ 172 Abs. 2 SGB IX).
Für den Fall der Insolvenz des Arbeitgebers „soll“ das Integrationsamt nach gesetzlich näher definierten Voraussetzungen ebenfalls die Zustimmung erteilen (§ 172 Abs. 3 SGB IX).
Kündigung Schwerbehinderter ohne Zustimmung des Integrationsamtes ist unwirksam
Der Verstoß gegen das Zustimmungserfordernis führt zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB. Für eine bereits ausgesprochene Kündigung kann die Zustimmung des Integrationsamtes nicht nachgeholt werden. Der Arbeitgeber muss – nach Einholung der Zustimmung des Integrationsamtes – eine neue Kündigung aussprechen.
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