Cesare Vannucchi, Dr. Brigitta Liebscher
Rz. 433
Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers beeinflussen das Gewicht des Interesses desselben an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes und können bei der Abwägung zu berücksichtigen sein. Dies soll allerdings nach der Rechtsprechung nicht bei schweren Pflichtverletzungen gelten bzw. ggf. haben solche persönlichen Merkmale dann nur marginale Bedeutung.
Beispiel
Bei einer Kündigung wegen eines vorsätzlichen Vermögensdelikts zum Nachteil des Arbeitgebers sind Unterhaltspflichten im Rahmen der Interessenabwägung in der Regel nicht zu berücksichtigen. Sie können lediglich dann an Bedeutung gewinnen, wenn eine durch Unterhaltspflichten bedingte schlechte Vermögenslage das bestimmende Motiv für die Tat war und den Schuldvorwurf mindern kann.
Rz. 434
Ein wegen der Verhältnisse des Arbeitsmarkts ungünstiges Lebensalter kann zugunsten eines Arbeitnehmers berücksichtigt werden. Bei einem im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmer, dem aufgrund seiner Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit gekündigt wurde, fand sein jugendliches Alter zur damaligen Zeit Berücksichtigung.
Rz. 435
Ein vermeidbarer Verbotsirrtum kann für die Interessenabwägung bedeutsam sein, wobei es auf den Grad des Verschuldens ankommt.
Beispiel
Ein Angestellter im öffentlichen Dienst wurde wegen ausländerfeindlicher Pamphlete gekündigt. Der Arbeitnehmer berief sich darauf, er habe geglaubt, die politische Meinungsäußerung sei erlaubt. Der Fall wurde vom BAG an das LAG zur weiteren Aufklärung, ob sich der Arbeitnehmer in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befunden hat, welcher bei der vorzunehmenden Interessenabwägung zu beachten wäre, zurückverwiesen.
Rz. 436
Ein Mitverschulden des Arbeitgebers kann sich zugunsten des Arbeitnehmers auswirken.
Beispiel
Die Kündigung wegen eigenmächtigen Urlaubsantritts, vor dem der Arbeitgeber zu Unrecht einen Urlaubsantrag des Arbeitnehmers abgelehnt und den Betriebsablauf unzureichend organisiert hatte, sodass die Urlaubsansprüche nicht nach den gesetzlichen Vorschriften erfüllt werden konnten, war unzulässig.
Rz. 437
Ein Geständnis oder eine Selbstanzeige sind bei der Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen.
Rz. 438
Die sich aus § 241 Abs. 2 BGB ableitende Pflicht des Arbeitnehmers, den Arbeitgeber nicht zu schädigen bzw. in den Grenzen der Möglichkeiten des Arbeitnehmers Schaden von ihm abzuwenden, besteht auch im ruhenden Arbeitsverhältnis fort. Der Arbeitnehmer hat auch während dieser Zeit den Arbeitgeber schädigende Verhaltensweisen zu unterlassen. Ein Pflichtverstoß kann aber während des Ruhens ein geringeres Gewicht haben, als während des vollzogenen Arbeitsverhältnisses.
Beispiel
Ein erhebliches Fehlverhalten des Arbeitnehmers gegenüber einem anderen, mit dem Arbeitgeber konzernrechtlich verbundenen Unternehmen, kann eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn das ruhende Arbeitsverhältnis als verantwortlicher Bereichsleiter durch das Fehlverhalten des Arbeitnehmers als Geschäftsführer im Nebenarbeitsverhältnis konkret und erheblich beeinträchtigt wird. Dies war vorliegend durch das Verursachen finanzieller Risiken in Millionenhöhe durch Falschdeklaration von Baumaßnahmen der Fall, weil der Arbeitnehmer auch als Bereichsleiter eine Führungs- und Vertrauensposition innehatte.
Auch eine unwiderrufliche Freistellung ist ein maßgeblicher Gesichtspunkt, hindert aber z. B. in Fällen schwerwiegender Störungen des Vertrauensverhältnisses eine Kündigung nicht. Diese Fallkonstellation wird aber im Wesentlichen bei außerordentlichen Kündigungen gegeben sein, bei denen eine Freistellung wegen bereits erfolgter Beendigungserklärung zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist erfolgt ist.
Rz. 439
Ist der Arbeitnehmer tarifvertraglich ordentlich unkündbar, kommt nur eine außerordentliche Kündigung in Betracht. Die tarifliche Unkündbarkeit kann dabei zugunsten des Arbeitnehmers ins Gewicht fallen, wenn es sich bei dem Fehlverhalten um einen einmaligen Vorgang handelt.
Ein pflichtwidriges Verhalten, das bei einem Arbeitnehmer ohne tarifvertraglichen Sonderkündigungsschutz nur eine ordentliche Kündigung rechtfertigen würde, kann zwar wegen der infolge des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung langen Bindungsdauer einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB darstellen. Zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs muss dann allerdings zugunsten des Arbeitnehmers zwingend eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende soziale Auslauffrist eingehalten werden, damit der Arbeitnehmer im Ergebnis nicht schlechter gestellt ist, als wenn er dem Sonderkündigungsschutz nicht unterfiele. Liegen die Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers, kommt eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die Pflichtverletzung muss dabei aber so gravierend sein, dass sie im Grundsatz auch eine fristlose Kündigung rechtfertigen könnte. Andererseits muss es dem Arbeitgeber aufgrund beson...