Rz. 700

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der sozialen Rechtfertigung ist auch bei der betriebsbedingten Kündigung der Zugang der Kündigungserklärung.[1] Betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung liegen aber nur vor, wenn der Arbeitgeber die geplante unternehmerische Entscheidung tatsächlich auch umsetzt, d. h. wenn die Durchführung oder eingeleitete Durchführung der Entscheidung der Beschäftigungsmöglichkeit spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist die Grundlage entzieht. Der Arbeitgeber handelt bei Ausspruch der Kündigung allerdings häufig im Vorgriff auf den endgültigen Wirkungstermin der Kündigung. Insbesondere bei langen Kündigungsfristen hat der Arbeitgeber oftmals deutlich vor der abschließenden Umsetzung eines unternehmerischen Konzepts, etwa einer Abteilungsstilllegung, die Kündigung auszusprechen. Sofern die Entscheidung nicht schon realisiert wurde, hat der Arbeitgeber daher im Kündigungsschutzprozess hinreichende Tatsachen vorzutragen, die dem Gericht die Überprüfung der Prognose ermöglichen, dass zum Zeitpunkt des Wirkungstermins der Kündigung die Entscheidung realisiert sein wird. Erforderlich ist, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung aufgrund einer vernünftigen, betriebswirtschaftlichen Betrachtung davon auszugehen ist, bei Ablauf der Kündigungsfrist sei mit einiger Sicherheit der Eintritt eines die Kündigung erforderlich machenden betrieblichen Grundes gegeben.[2] Die geplanten Maßnahmen müssen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits "greifbare Formen" angenommen haben, wobei sie nicht zwangsläufig nach außen kundgegeben werden müssen.[3]

 
Achtung

Der Arbeitgeber hat gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen. Er hat also die tatsächliche Grundlage für die Berechtigung der Prognose, bis spätestens zum Ablauf der Kündigungsfrist werde ein entsprechender Beschäftigungsbedarf entfallen sein, vorzutragen und im Bestreitensfall zu beweisen. Wenn sich diese innere Tatsache nicht in irgendeiner Weise nach außen manifestiert hat, wird es im Hinblick auf § 286 Abs. 1 ZPO auf die genaue Darlegung des inneren Willensbildungsprozesses der betreffenden Person, die Schlüssigkeit ihrer Angaben und gegebenenfalls auf ihre Glaubwürdigkeit ankommen.

Hierzu müssen zumindest die Absicht und der Wille des Arbeitgebers, die fraglichen Maßnahmen vorzunehmen, schon vorhanden und abschließend gebildet worden sein. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung muss der Arbeitgeber somit endgültig und vorbehaltlos zur Vornahme einer Maßnahme entschlossen sein, die, wenn sie durchgeführt wird, bis zum Ablauf der Kündigungsfrist den Arbeitsplatzverlust zur Folge hat. Es reicht somit nicht aus, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung lediglich plant oder erwägt.[4] Der tatsächliche Eintritt der prognostizierten Entwicklung nach Ausspruch der Kündigung kann Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit und Plausibilität der Prognose zulassen.[5] Prognoserelevant ist zudem nicht, dass sich der Arbeitgeber entschlossen hat, die gekündigten Arbeitnehmer während des Laufs ihrer Kündigungsfrist noch einzusetzen. Der Arbeitgeber erfüllt damit nur seine auch im gekündigten Arbeitsverhältnis noch bestehende Beschäftigungspflicht. Andernfalls wäre er je nach Dauer der einzuhaltenden Kündigungsfrist gezwungen, den Arbeitnehmer noch mehrere Monate zu entlohnen, ohne dass er für ihn eine Verwendungsmöglichkeit hat.[6]

 

Rz. 701

 

Beispiel

Nach BAG, Urteil v. 13.2.2008, 2 AZR 543/06:

Einem gemeinnützigen Verein, der Rettungsdienste ausführt, wird vom zuständigen Landkreis zum Ende des laufenden Kalenderjahres der Auftrag zur Durchführung der Rettungsdienste nicht verlängert, der mit 72 Rettungssanitätern und -assistenten durchgeführt wurde. Der Landkreis schreibt für den Beginn des Folgejahres den Auftrag neu aus; auch der gemeinnützige Verein bewirbt sich um die Fortführung des Auftrags. Noch vor Abschluss des Ausschreibungsverfahrens kündigt er den Arbeitnehmern vorsorglich zum Jahresende. Nach Zugang der Kündigungen erhält der Arbeitgeber die Mitteilung, dass der Zuschlag einem anderen Anbieter erteilt wurde.

In einem solchen Fall soll es nach der Rechtsprechung des BAG zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärungen noch an einem endgültigen Stilllegungsentschluss fehlen. Solange eine Neuvergabe des Auftrags offen sei, könne eine zum Wegfall des Arbeitsplatzes führende vernünftige Prognose nicht angestellt werden.

Gleichwohl scheint diese Rechtsprechung zu weit zu gehen, da vom Arbeitgeber nicht verlangt werden kann, mit den Kündigungen zu warten, bis der endgültige Auftragsverlust feststeht. Allein die Bewerbung um den neu ausgeschriebenen Auftrag kann die relevante Prognose nicht erschüttern. Eine interessengerechte Lösung kann hier deswegen nur der Wiedereinstellungsanspruch bieten.

 

Rz. 702

Bei einer Betriebsstilllegung können greifbare Formen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unter anderem angenommen werden, wenn der Arbeitgeber seine Stilllegungsabsicht unmissver...

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