Cesare Vannucchi, Dr. Brigitta Liebscher
Rz. 756
Der Arbeitgeber kann, wenn von der Reduzierung des Beschäftigungsbedarfs mehrere Arbeitnehmer betroffen sind, vor dem Problem stehen, welchem Arbeitnehmer ein freier Arbeitsplatz im Hinblick auf eine etwaige Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzubieten ist. Stehen bei einem betriebsbedingten Wegfall von Arbeitsplätzen nicht hinreichend viele andere Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten für alle Arbeitnehmer zur Verfügung, hat der Arbeitgeber bei der Auswahl unter den Betroffenen soziale Belange zu berücksichtigen. Bei einer Konkurrenz mehrerer Arbeitnehmer um eine andere Beschäftigung hat der Arbeitgeber somit nach den Grundsätzen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG analog zu entscheiden. Voraussetzung ist jedoch zunächst, dass im Hinblick auf die zu besetzenden freien Arbeitsplätze die Arbeitnehmer nach Ausbildung, Qualifikation und Fähigkeiten gleich geeignet sind. Will ein betroffener Arbeitnehmer die fehlerhafte Auswahl monieren, muss er die entsprechende Sozialauswahl des Arbeitgebers rügen. Andernfalls braucht der Arbeitgeber die entsprechende Sozialauswahl nicht näher zu begründen.
Rz. 757
Kommen somit für einen freien vergleichbaren Arbeitsplatz im selben Betrieb mehrere von einer Kündigung betroffene Arbeitnehmer in Betracht, hat der Arbeitgeber eine Auswahlentscheidung entsprechend den Grundsätzen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 und 4 KSchG zu treffen. Konkurrieren die Arbeitnehmer um anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Betrieben desselben Unternehmens, sind ebenfalls die Grundsätze der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG zu beachten. Die Sozialauswahl ist dann ausnahmsweise unternehmensbezogen durchzuführen. Hiermit wird der ursprünglich bestehende Gleichlauf von Weiterbeschäftigungspflicht und Sozialauswahl wiederhergestellt. Eine im Gesetz bestehende Regelungslücke wird geschlossen. Es bedarf somit für die Berücksichtigung der sozialen Belange des Arbeitnehmers auch keines Rückgriffs auf § 315 Abs. 3 BGB. Die normativen Grundsätze über die Sozialauswahl verdrängen die allgemeinen Billigkeitsregeln. Nur so können unnötige Rechtsunsicherheiten vermieden werden.
Um Risiken einer sozialwidrigen Auswahlentscheidung zu umgehen, sollte der Arbeitgeber sich an die Sozialkriterien des § 1 Abs. 3 halten. Denn jede Entscheidung, die diesen Kriterien gerecht wird, ist auch eine billige Entscheidung im Rahmen des § 315 BGB. Die Stellenkonkurrenz ist daher nach den Kriterien der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderteneigenschaft zu lösen.
Rz. 758
Die Grundsätze der Sozialauswahl hat der Arbeitgeber auch dann zu beachten, wenn die vom Wegfall des Arbeitsplatzes betroffenen Arbeitnehmer um verschiedenartige Beschäftigungsmöglichkeiten konkurrieren. Wenn daher bspw. freie Arbeitsplätze mit verschiedenen Arbeitsbedingungen oder an verschiedenen Orten zur Verfügung stehen, hat der Arbeitgeber in einem 1. Schritt unter Berücksichtigung einer Sozialauswahl zwischen den betroffenen Arbeitnehmern zu entscheiden, wem er eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anbietet und wer gekündigt wird. Die verschiedenartigen Beschäftigungsmöglichkeiten hat er dann wiederum nach sozialen Kriterien unter den Weiterzubeschäftigenden zu verteilen, soweit diese einem objektiven Günstigkeitsvergleich zugänglich sind (vgl. Rz. 755).
Rz. 759
Der Arbeitgeber kann diese Grundsätze der Sozialauswahl schließlich nicht dadurch umgehen, dass er zunächst die zur Verfügung stehenden freien Arbeitsplätze besetzt, d. h. fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit treuwidrig herbeiführt, und sodann Beendigungskündigungen ausspricht. Die unternehmerische Entscheidung, die zum Wegfall der ursprünglichen Beschäftigungsmöglichkeiten führt, ist Grundlage sowohl für den Beschluss, andere Arbeitsplätze zuzuweisen, als auch für die korrespondierenden Beendigungskündigungen. Die Entscheidungen stellen daher einen einheitlichen unternehmerischen Vorgang dar, der unter die Bedingung der sozialen Auswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG fällt. Andernfalls läge ein Verstoß gegen den Rechtsgedanken des § 162 BGB vor. Der Arbeitgeber darf Stellenbesetzungen nicht vorziehen, um Anforderungen des Kündigungsschutzgesetzes zu umgehen. Hier gilt letztlich nichts anderes als bei der Beurteilung, ob ein anderer Arbeitsplatz im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung als frei anzusehen war (vgl. Rz. 736).
Die obigen Grundsätze sind auch bei bevorstehenden Änderungskündigungen einschlägig. Nach den Grundsätzen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG ist zu entscheiden, welchem Arbeitnehmer das günstigere Arbeitsangebot zu unterbreiten ist.