Legal Tech: Zeitenwende für HR
Digitalisierung ist integraler Bestandteil des menschlichen Alltags: Sie beeinflusst, wie wir kommunizieren, konsumieren, lernen und unsere Freizeit gestalten. Nicht zuletzt durch die Berichterstattung über "große Sprachmodelle" wie GPT-3, mit dem Texte erstellt, Fragen beantwortet und Aufgaben gelöst werden können, ist die "digitale Revolution" in aller Munde.
Digitalisierung und HR
Digitale Anwendungen und Softwarelösungen sind im HR-Bereich in vielen Unternehmen bereits fest etabliert und kommen insbesondere in Form von Bewerbermanagement-Tools, Lohn und Gehaltsabrechnungssystemen, digitalen Personalakten, aber auch umfassenden Personalmanagement- oder "HCM"- Systemen zum Einsatz. Dabei sollen durch digitalisierte und automatisierte Prozessabläufe vor allem administrative Aufgaben schneller bewältigt und "Zeitfresser" im HR-Bereich verschlankt werden.
Neben der automatisierten Abarbeitung von Routineaufgaben bieten Softwarelösungen die Möglichkeit, bei Personalentscheidungen zu unterstützen, um diese effektiver, einfacher hneller treffen zu können. Entsprechende Tools werden oft bereits im Bewerbungsverfahren genutzt. Hier ist die Anzahl an Interessenten vielfach so groß, dass sich Arbeitgeber einer künstlichen Intelligenz bedienen, die Bewerbungen vor- oder auch aussortiert. Teilweise sind derartige Systeme sogar in der Lage, Persönlichkeitsprofile der Kandidaten zu erstellen, indem sie eingehende "Bewerbungsvideos" mit Blick auf Mimik, Gestik, Sprache und schließlich den Inhalt der getätigten Äußerungen analysieren. Während des laufenden Arbeitsverhältnisses besteht beispielsweise durch das Erstellen softwaregestützter "Rankings" unter den Mitarbeitenden die Möglichkeit, automatisierte Vorschläge für Beförderungsentscheidungen zu erhalten.
Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder Sozialauswahl
"Legal-Tech-Lösungen" können auch bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen unterstützen, insbesondere dann, wenn im Rahmen betriebsbedingter Kündigungen die Durchführung einer Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG erforderlich ist. Viele Unternehmen ermitteln derzeit noch "händisch" oder anhand teilautomatisierter Excel-Tabellen, welchen Arbeitnehmern auf Grundlage der gesetzlich vorgegebenen Kriterien (Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Schwerbehinderung und Unterhaltspflichten) als den jeweils "sozial Stärkeren" zu kündigen ist. Sozialdaten auf diesem Wege zu erheben und zu gewichten, ist jedoch nicht nur zeitintensiv, sondern auch fehleranfällig und stößt spätestens in größeren Umstrukturierungs- oder Transformationsprojekten an Grenzen.
Softwaregestütze Sozialauswahl
Hier kommen softwarebasierte Sozialauswahl-Tools ins Spiel, mit deren Hilfe die Sozialauswahl weitestgehend automatisiert durchgeführt werden kann. Durch die hiermit einhergehende Zusammenführung und Optimierung der Abläufe werden nicht nur Zeitaufwand und Kosten eines Projekts deutlich reduziert, sondern gleichzeitig auch die Effizienz und Rechtssicherheit des Auswahlprozesses signifikant gesteigert. Eine derartige Softwarelösung ist "CMS-Select", an dessen Beispiel die Funktionsweise automatisierter Sozialauswahl-Tools im Folgenden exemplarisch illustriert wird.
Damit das Tool einen Vorschlag für die Sozialauswahl unterbreiten kann, werden zunächst die durchzuführenden Maßnahmen (beispielweise "Einstellung des Technischen Kundendienstes" oder "Schließung der Produktion") definiert und anschließend die relevanten Ausgangsdaten für das Projekt in das System übertragen. Erfasst werden müssen insbesondere die Sozialdaten der unmittelbar vom Verlust ihres Arbeitsplatzes betroffenen Mitarbeiter, aber auch die der Kollegen, die mit ihnen "vergleichbar" sind und somit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in die Sozialauswahl einbezogen werden (etwa BAG, Urteil vom 20.6.2013, Az. 2 AZR 271/12). Die entsprechenden "Vergleichsgruppen" können sodann in der Software hinterlegt werden. Um die gesetzlichen Anforderungen des § 1 KSchG hinreichend abbilden zu können, sollten überdies auch freie Arbeitsplätze im Unternehmen vermerkt werden, auf denen geeignete Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestehen
Punkteschemata helfen bei der Struktur
Sind alle Parameter eingegeben, simuliert das Programm die Sozialauswahl. Zur Gewichtung der Sozialdaten kann es auf zahlreiche "Punkteschemata" zurückgreifen, deren Rechtmäßigkeit bereits durch die Rechtsprechung bestätigt wurde. Aus den verschiedenen Vorschlägen kann nun das Ergebnis herausgesucht werden, das den unternehmerischen Vorstellungen am besten entspricht. Dabei ist es nicht nur möglich, die Auswahl innerhalb von der Rechtsprechung "akzeptierter" Punkteschemata zu "steuern", indem das System beispielsweise angewiesen wird, gezielt eine "ausgeglichene Altersstruktur" im Betrieb zu sichern. Optional können auch eigene, unternehmensspezifische Auswahlrichtlinien hinterlegt und die Sozialauswahl sodann auf dieser Grundlage durchgespielt werden.
Die hierdurch gewonnene Flexibilität bietet dem Anwender die Möglichkeit, Spielräume, die sich zugunsten des Arbeitgebers bei der Durchführung der Sozialauswahl bieten, bestmöglich zu nutzen und aktuelle Rechtsprechungsentwicklungen aufzugreifen. So kann beispielsweise – wie das BAG erst kürzlich entschieden hat (BAG, Urteil vom 8.12.2022, Az. 6 AZR 31/22) – bei der Gewichtung des Lebensalters zulasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Gleiches soll gelten, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann. Soll die durch das BAG hervorgehobene "Ambivalenz" des Auswahlkriteriums "Lebensalter" zum Ausdruck gebracht werden, indem beispielsweise rentennahe Arbeitnehmer vergleichsweise wenige (oder gegebenenfalls keine) Punkte für das Alter erhalten, ist es ohne weiteres möglich, eine entsprechende Vorlage in das System zu übernehmen und die Sozialauswahl auf dieser Grundlage zu simulieren.
Feinjustierung
Die ermittelten Ergebnisse lassen sich sodann anhand unternehmensspezifischer Kriterien und Bedürfnisse "feinjustieren", indem etwa Leistungsträger von der Sozialauswahl ausgenommen, Vergleichsgruppen neu sortiert oder ursprünglich geplante Maßnahmen angepasst werden. So können – auch parallel – eine Vielzahl von Beispielsberechnungen durchgeführt und datenschutzkonform abgebildet werden. Regelmäßig sind Sozialauswahl-Tools auch mit Exportfunktionen ausgestattet, sodass die Resultate – zum Beispiel in Form von Excel-Listen – visualisiert und bei Bedarf auch an die Arbeitnehmervertreter übergeben bzw. im Streitfall bei Gericht verwendet werden können.
Einsatz bei Umstrukturierungsprojekten und Transformationsprozessen
Bereits aufgrund ihrer Komplexität bietet es sich an, softwarebasierte Sozialauswahl-Tools im Rahmen von Umstrukturierungsvorhaben zu nutzen, die eine große Anzahl von Arbeitnehmern betreffen. Hier lohnt es sich, die Sozialauswahl bereits zu Beginn des Projekts – zunächst hypothetisch – durchzuspielen, um die Auswirkungen verschiedener Planungsszenarien frühzeitig durchdenken und die Erkenntnisse sodann in den Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen mit dem Betriebsrat verwerten zu können. Ergänzt man die Software mit einem automatisierten "Abfindungsrechner", ist es möglich, die potenziellen Projektkosten – etwa die Höhe etwaig zu zahlender Sozialplanabfindungen oder die "Kosten" eines Freiwilligenprogramms – im Auge zu behalten.
Schließlich lassen sich auch weitere, typischerweise im Rahmen von Umstrukturierungsprojekten benötigte Dokumente wie Kündigungsschreiben, Betriebsratsanhörungen oder Begleitschreiben zur Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit auf Grundlage der im System hinterlegten Daten automatisiert erstellen oder vorbereiten. Auch abseits großer (Umstrukturierungs-)Projekte kann derartige Software helfen, die im Einzelfall getroffene Sozialauswahl im Rahmen eines gerichtlichen Kündigungsschutzprozesses rechtssicher darzulegen oder Personal- oder Trennungsgespräche mit einzelnen Mitarbeitern effektiv vorzubereiten.
Ausblick
"Digitalisierung! Zugleich Fluch, Verheißung und alternativlos, das Großthema der Stunde." – diese Einschätzung des Bloggers und Autors Sascha Lobo aus dem Jahr 2016 ist nach wie vor aktuell. Während Digitalisierung angesichts der damit verbundenen Arbeitsentlastung und Prozessoptimierung für viele HR-Abteilungen eher Verheißung als Fluch bedeuten sollte, kommen Software-Lösungen (jedenfalls bislang) nicht ohne menschliches Zutun aus. Während ein letztes manuelles "Feintuning" oft unerlässlich ist, um automatisiert erstellte Sozialauswahlergebnisse optimal an die unternehmerischen Vorstellungen anpassen und mit den Arbeitnehmervertretern besprechen zu können, liegt es insbesondere bei der Nutzung von "Bewerbungs-Tools" in der Hand der Personalverantwortlichen, darauf zu achten, dass automatisiert getroffene Entscheidungen diskriminierungsfrei und im Rahmen der geltenden (datenschutz-)rechtlichen Bestimmungen getroffen werden. Ganz ohne den Menschen geht es also (noch) nicht – irgendwie auch ein bisschen beruhigend.
Dieser Beitrag ist erschienen im Sonderheft "Personalmagazin plus: Kanzleien im Arbeitsrecht", das Sie hier kostenlos als PDF herunterladen können.
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