Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 908
Die Vorschrift ermöglicht es den Tarifvertrags- bzw. Betriebspartnern, in einem Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG oder in einer entsprechenden Richtlinie nach den Personalvertretungsgesetzen festzulegen, wie die bei der Sozialauswahl zu berücksichtigenden Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 KSchG im Verhältnis zueinander zu bewerten sind. Diese Bewertung kann von den Arbeitsgerichten nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Soweit eine Auswahlentscheidung auf einer kollektivrechtlichen Auswahlrichtlinie beruht, genießt sie damit einen höheren Bestandsschutz vor Gericht.
Rz. 909
Mit der am 1.1.2004 in Kraft getretenen Fassung des § 1 Abs. 4 KSchG kehrt der Gesetzgeber wieder zu der zwischen 1996 und 1999 geltenden Rechtslage zurück. Die Rechtsprechung hatte den Betriebspartnern zwar bei der Aufstellung von Auswahlrichtlinien schon früher einen größeren Wertungsspielraum eingeräumt als dem einzelnen Arbeitgeber; begründet wurde dies mit Hinweis auf § 95 BetrVG.
Mit der Wiedereinführung des § 1 Abs. 4 KSchG erweiterte der Gesetzgeber diesen Spielraum indessen deutlich. Auswahlrichtlinien nach § 1 Abs. 4 KSchG können danach auch für Änderungskündigungen aufgestellt werden.
Rz. 910
Die Bestimmung des § 1 Abs. 4 KSchG beruht auf einer Richtigkeitsvermutung, die sowohl zugunsten einer tariflichen als auch einer betrieblichen Auswahlrichtlinie eingreift und eine allgemeine Inhaltskontrolle dieser Vereinbarungen ausschließt (vgl. auch § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB). Der besseren Kalkulierbarkeit der Zulässigkeit einer Kündigung wird somit ein höherer Stellenwert eingeräumt als der individuellen Beurteilung des Einzelfalls. Unter Umständen bedeutet dies nichts anderes als eine erhebliche Verkürzung des individualrechtlichen Kündigungsschutzes durch kollektivrechtliche Absprachen.
Rz. 911
Der eingeschränkte Prüfungsmaßstab des § 1 Abs. 4 KSchG bezieht sich allerdings nur auf den Inhalt der Auswahlrichtlinie; ob sie in der konkreten Kündigungsentscheidung richtig angewendet wurde, kann das Arbeitsgericht dagegen voll überprüfen. Privilegiert und nur auf grobe Fehler überprüfbar ist außerdem nur die Entscheidung der Tarifvertrags- bzw. Betriebspartner, wie die sozialen Gesichtspunkte des § 1 Abs. 3 KSchG im Verhältnis zueinander gewichtet werden. Die Vorschrift ist keinesfalls so zu verstehen, dass leichte Verstöße gegen eine wirksame Richtlinie unbeachtlich seien. Der Arbeitgeber muss sich bei der Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer vielmehr genau an die in der Richtlinie verabredete Bewertung der sozialen Gesichtspunkte halten; anderenfalls sind die ausgesprochenen Kündigungen ohne Weiteres unwirksam.
Rz. 912
Ferner erstreckt sich die Privilegierung, die § 1 Abs. 4 KSchG anordnet, nicht auf Betriebsvereinbarungen, die im Vorfeld einer betriebsbedingten Kündigung den Kreis vergleichbarer Arbeitnehmer festlegen. Entsprechende Richtlinien dienen nicht unmittelbar der Gewichtung der Sozialkriterien, sondern lediglich der Bestimmung derjenigen Arbeitnehmer, die überhaupt in eine Sozialauswahl einzubeziehen sind; sie sind daher von den Arbeitsgerichten uneingeschränkt überprüfbar.
Eine Auswahlrichtlinie, in der die Betriebspartner bestimmen, dass alle Mitglieder einer Gewerkschaft aus dem Kreis der zu kündigenden Arbeitnehmer ausgenommen werden, verstößt gegen § 75 BetrVG und ist unwirksam.
Eine Privilegierung nach § 1 Abs. 4 KSchG kommt in diesem Fall nicht in Betracht, da nur die Gewichtung der 4 Hauptkriterien, nicht aber die Entscheidung über den Kreis der vergleichbaren und ggf. zu kündigenden Arbeitnehmer privilegiert ist.
Rz. 913
Nicht unter § 1 Abs. 4 KSchG fallen Auswahlrichtlinien, die Festlegungen zu berechtigten betrieblichen Interessen i. S. v. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG treffen, die der Kündigung einzelner Arbeitnehmer entgegenstehen. Zwar ist es den Betriebspartnern unbenommen, auch insoweit allgemeine Kriterien zu formulieren; allerdings unterliegen solche Festlegungen grds. der vollen Rechtskontrolle anhand von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG. In beiden Fällen geht die Rechtsprechung zwar davon aus, dass derartige Vereinbarungen der Tarifvertrags- bzw. Betriebspartner eine gewisse "Richtigkeitsgewähr" bieten; eine Privilegierung ist damit – anders als bei Auswahlrichtlinien i. S. v. § 1 Abs. 4 KSchG – jedoch nicht verbunden. Die Betriebspartner sind nicht berechtigt, die Arbeitnehmer bestimmter Arbeits- oder Altersgruppen ohne sachlichen Grund aus der Auswahl herauszunehmen. § 1 Abs. 4 KSchG betrifft nur die Gewichtung der sozialen Auswahlkriterien und nicht die Zusammensetzung des auswahlrelevanten Personenkreises oder die entgegenstehenden betrieblichen Bedürfnisse. Legen die Betriebspartner in einer Auswahlrichtlinie z. B. die betriebliche Vergleichbarkeit falsch fest, verletzen sie damit § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG; dieser Verstoß wird nicht über die Privilegierung des § 1 Abs. 4 KSchG "geheilt".
Rz. 914
Insoweit unterwirft § 1 Abs. 4 KSc...