Rz. 970

§ 1 Abs. 5 KSchG erleichtert die Darlegungs- und Beweislast des kündigenden Arbeitgebers hinsichtlich der "dringenden betrieblichen Erfordernisse" und beschränkt die gerichtliche Überprüfung der Sozialauswahl auf "grobe Fehlerhaftigkeit".

4.9.3.1 Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse (Abs. 5 Satz 1)

 

Rz. 971

Sofern die oben genannten Voraussetzungen vorliegen, wird gesetzlich vermutet, dass die ausgesprochenen Kündigungen durch "dringende betriebliche Erfordernisse" i. S. d. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt sind. Die Beweislastregel des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG wird damit zulasten des Arbeitnehmers umgekehrt.

 

Rz. 972

Die gesetzliche Vermutung erstreckt sich sowohl auf den betriebsbedingten Kündigungsgrund als auch auf die fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Unternehmen.[1]

Im Fall einer betriebsbedingten Änderungskündigung geht die Vermutung nach § 1 Abs. 5 KSchG dahin, dass das Weiterbeschäftigungsbedürfnis zu den bisherigen Konditionen weggefallen ist. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der örtliche Betriebsrat auch die Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Betrieben des Unternehmens überprüfen kann; dies ist angesichts des korrespondierenden Widerspruchsrechts des Betriebsrats gem. § 102 Abs. 3 Nr. 3 BetrVG konsequent. Das BAG hat sich dieser auch in der Literatur überwiegend vertretenen Auffassung angeschlossen.[2]

Die Vermutungswirkung beschränkt sich auf betriebsbedingte Kündigungen. Eine Namensliste in einem Interessenausgleich rechtfertigt daher nicht zugleich die Vermutung, dass betriebsbedingte Gründe vorliegen, die einem Teilzeitverlangen nach § 15 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 BEEG entgegenstehen.[3]

 

Rz. 973

Schließlich wird im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 5 KSchG auch eine fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu geänderten Arbeitsbedingungen oder nach zumutbaren Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen vermutet.[4] Beschäftigt der Arbeitgeber allerdings Leiharbeitnehmer auf Dauerarbeitsplätzen, so widerlegt dies die gesetzliche Vermutung.[5]

[1] BT-Drucks. 15/1204 S. 11; vgl. auch APS/Kiel, § 1 KSchG Rz. 716; Lembke, NZA 2022, 1561, 1562; HWK/Quecke, Arbeitsrecht, § 1 KSchG Rz. 428.
[3] BAG, Urteil v. 5.9.2023, 9 AZR 329/22, NZA 2024, 190, Rz. 27.
[4] Lembke, NZA 2022, 1561, 1562; HWK/Quecke, Arbeitsrecht, § 1 KSchG Rz. 428.
[5] LAG Köln, Urteil v. 10.8.2009, 5 Sa 380/09, FD-ArbR 2009, 290456.

4.9.3.2 Eingeschränkte Überprüfung der Sozialauswahl (Abs. 5 Satz 2)

 

Rz. 974

Weitere Rechtsfolge des § 1 Abs. 5 KSchG ist, dass die soziale Auswahl der Arbeitnehmer, auf der die Namensliste beruht, in einem Kündigungsschutzverfahren nur auf "grobe Fehlerhaftigkeit" überprüft wird. Im Gegensatz zu § 1 Abs. 4 KSchG bezieht sich der eingeschränkte Prüfungsmaßstab allerdings nicht nur auf die Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte, sondern auch auf die Richtigkeit der getroffenen Sozialauswahl und die Entscheidung im Einzelfall.[1]

 

Rz. 975

Zum einen betrifft dies die Entscheidung der Betriebspartner über die Mitarbeiter, die überhaupt in einer Sozialauswahl zu berücksichtigen sind (Vergleichbarkeit). Dieser Aspekt war im Schrifttum lange umstritten; teilweise wurde vertreten, die Abgrenzung des einzubeziehenden Personenkreises sei eine Rechtsfrage und keine Frage des Auswahlermessens.[2] Das BAG ist jedoch seit Längerem der Auffassung, dass sich der reduzierte Prüfungsmaßstab des § 1 Abs. 5 KSchG auch auf die Vergleichsgruppenbildung erstrecke. Angesichts der Forderung nach größerer Rechtssicherheit mache es wenig Sinn, die Sozialauswahl, was die Kriterien und ihre Gewichtung angeht, nur einer eingeschränkten Überprüfung auf grobe Fehlerhaftigkeit zu unterwerfen, die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer als solche jedoch auszuklammern.[3]

 
Hinweis

In Bezug auf die Sozialauswahl liegt der wesentliche mit der Namensliste verbundene Vorteil weniger in der Vermutung der richtigen Gewichtung der Sozialdaten als vielmehr darin, dass die Bildung der Gruppen vergleichbarer Arbeitnehmer, welche jeweils in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann. Die Gewichtung der Sozialdaten lässt sich in der Praxis durch anerkannte Punkteschemata bewältigen (vgl. Rz. 864, 924 ff.). Wesentlich schwieriger ist in der Praxis hingegen die Bestimmung, welche Arbeitnehmer miteinander vergleichbar (d. h. hierarchisch vergleichbar, qualifikationsmäßig austauschbar und kraft Direktionsrecht auf den Arbeitsplatz des anderen Arbeitnehmers versetzbar) sind. Insoweit hilft es, wenn die der Namensliste zugrunde liegende Vergleichsgruppenbildung grundsätzlich als korrekt unterstellt wird.[4]

 

Rz. 976

Zum anderen gilt die eingeschränkte Überprüfbarkeit der Sozialauswahl auch für die Bewertung der berechtigten betrieblichen Interessen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG durch die Betriebspartner. Die Herausnahme einzelner Leistungsträger aus der Sozialauswahl unterliegt somit ebenfalls nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.[5]).

 

Rz. 977

Die eingeschränkte Prüfungskompetenz der Arbeitsgerichte betrifft also die soziale ...

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