Rz. 4

Neben dem Harmonisierungszweck[1] besteht das Hauptziel der MERL darin, dass vor Massenentlassungen eine Konsultation der Vertreter der betroffenen Arbeitnehmer durchgeführt und die zuständige Behörde informiert wird.[2] Die Massenentlassungsvorschriften der MERL haben 3 Zielrichtungen:

[1] Vgl. EuGH, Urteil v. 30.4.2015, C-80/14 (USDAW), NZA 2015, 601, Rz. 62: "Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie nicht nur den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen stärken soll, sondern auch einen vergleichbaren Schutz der Rechte der Arbeitnehmer in den verschiedenen Mitgliedstaaten im Fall von Massenentlassungen gewährleisten und die für die Unternehmen in der Union mit diesen Schutzvorschriften verbundenen Belastungen einander angleichen soll"; vgl. auch EuGH, Urteil v. 21.12.2016, C-201/15 (AGET Iraklis), NZA 2017, 167, Rz. 32, 36 ff.; BAG, Urteil v. 20.1.2016, 6 AZR 601/14, NZA 2016, 490, Rz. 33.

1.2.1 Arbeitsmarktpolitischer Zweck

 

Rz. 5

Die Anzeigepflicht im Massenentlassungsverfahren dient einem arbeitsmarktpolitischen Zweck: Sie soll es der zuständigen Behörde ermöglichen, auf der Grundlage aller ihr vom Arbeitgeber übermittelten Informationen zu ergründen, welche Möglichkeiten bestehen, durch Maßnahmen, die an die Gegebenheiten des Arbeitsmarkts und der Wirtschaftstätigkeit, unter denen die Massenentlassungen stattfinden, angepasst sind, die negativen Folgen der Entlassungen zu begrenzen.[1] Die Arbeitsverwaltung soll durch die Anzeige des Arbeitgebers in die Lage versetzt werden, sich rechtzeitig auf zu erwartende Entlassungen größeren Umfangs einzustellen und Lösungen für die mit der Massenentlassung verbundenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 MERL), insbesondere also Maßnahmen zur Vermeidung oder Verkürzung der Arbeitslosigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer zu treffen.[2] Zweck ist es also, der zuständigen Behörde die Möglichkeit zu geben, durch geeignete Maßnahmen die sozioökonomischen Auswirkungen, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen können, aufzufangen und so Belastungen des Arbeitsmarkts zu vermeiden oder zumindest zu verzögern, die Entlassungsfolgen für die Betroffenen zu mildern und für deren anderweitige Beschäftigung zu sorgen.[3] Diesem Gesetzeszweck dient auch die Sperrfrist nach § 18 Abs. 1 und 2 KSchG, innerhalb welcher die anzeigepflichtigen Entlassungen nicht wirksam werden und welche sich daher wie eine Art "gesetzliche Mindestkündigungsfrist" bzw. wie ein "Mindestzeitraum" zwischen Anzeigenerstattung und tatsächlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses auswirkt[4] (Rz. 38). Dadurch können die Entlassungen hinausgezögert werden, und die Arbeitsverwaltung erhält Zeit zur Einleitung wirksamer Maßnahmen. Allerdings ist dieser Gesetzeszweck durch die Einführung der Pflicht des Arbeitnehmers, sich spätestens 3 Monate vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses bzw. innerhalb von 3 Tagen nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden (§ 38 Abs. 1 SGB III)[5], in den Hintergrund gerückt. Denn durch die persönliche Meldung des Arbeitnehmers erlangt die Arbeitsverwaltung bereits rechtzeitig Kenntnis von der drohenden Arbeitslosigkeit des Arbeitnehmers. Dennoch obliegt die Erfüllung der Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 und 3 KSchG dem Arbeitgeber. Die Meldung der Arbeitnehmer als arbeitsuchend entbindet den Arbeitgeber nicht von seiner Anzeigepflicht.[6]

[3] BAG, Urteil v. 13.2.2020, 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006, Rz. 75, 103.
[5] Ursprünglich § 37b SGB III, eingeführt mit Wirkung ab dem 1.7.2003 durch das 1. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 23.12.2002, BGBl. I S. 4607; dazu Zieglmeier, DB 2004, 1830; Giesen, NJW 2006, 721, 726 f.
[6] BAG, Urteil v. 14.5.2020, 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091, Rz. 133.

1.2.2 Betriebsverfassungsrechtlicher Zweck

 

Rz. 6

Zweck der Auskunfts- und Beratungspflichten gegenüber dem Betriebsrat bzw. der zuständigen Arbeitnehmervertretung im Rahmen des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 6 KSchG ist es, die Einbindung der Arbeitnehmervertreter im Falle weitreichender Personalmaßnahmen sicherzustellen, damit sie die Möglichkeiten der Vermeidung oder Abmilderung von Entlassungen mit dem Arbeitgeber erörtern können (vgl. Art. 2 Abs. 2 MERL).[1] Das in Art. 2 MERL vorgesehene Recht auf Information und Konsultation kommt allerdings nur den Arbeitnehmervertretern zu und nicht dem einzelnen Arbeitnehmer. Das Konsultationsverfahren, namentlich Art. 2 Abs. 3 MERL, gewährt den betroffenen Arbeitnehmern einen kollektiven und keinen individuellen Schutz.[2] Dazu ...

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