EuGH: Weniger Arbeitnehmerschutz bei Massenentlassungen?

Verstößt der Arbeitgeber bei der Durchführung einer Massenentlassung gegen die Verfahrensvorschriften des § 17 KSchG, droht nach Rechtsprechung des BAG die Unwirksamkeit der folgenden Kündigungen. Ob das Urteil des EuGH vom 13.7.2023 diese Rechtsfolge ändert, soll folgender Beitrag beleuchten.

Plant ein Arbeitgeber innerhalb von 30 Kalendertagen Entlassungen in größerem Umfang, handelt es sich um eine Massenentlassung nach § 17 KSchG. In der Folge ist der Arbeitgeber verpflichtet, im Voraus sowohl den Betriebsrat als auch die Agentur für Arbeit zu informieren. Insbesondere dienen die Verfahrensvorschriften arbeitsmarktpolitischen Zielen – die Agentur für Arbeit soll ausreichend Zeit erhalten, um den entlassenen Arbeitnehmern neue Beschäftigungsverhältnisse zu vermitteln. Welche Verfahrensschritte darüber hinaus auch individuellen Kündigungsschutz gewähren, hatte der EuGH nach Vorlage des BAG in seinem Urteil vom 13.7.2023 – C-134/22 zu klären.

Sachverhalt – Verstoß gegen die Übermittlungspflicht

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der beklagte Insolvenzverwalter einer GmbH beschloss am 17.1.2020, die Geschäftstätigkeit der GmbH einzustellen. Dafür war es seines Erachtens erforderlich, bis Ende Januar 2020 drei Viertel der knapp 200 Arbeitnehmer zu entlassen. Ebenfalls am 17.1.2020 wurde der Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG unterrichtet. Entgegen der sog. Übermittlungspflicht aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG wurde diese Mitteilung jedoch nicht an die zuständige Agentur für Arbeit weitergeleitet. Ihr wurde die beabsichtigte Massenentlassung erst am 22.1.2020 nach § 17 Abs. 1 KSchG gemeinsam mit dem Stand der Beratung im Betriebsrat nach § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG angezeigt. Dem von der Massenentlassung betroffenen Kläger wurde wenige Tage später, am 28.1.2020, die Kündigung erklärt. Gegen diese erhob er am 18.2.2020 Kündigungsschutzklage vor dem zuständigen Arbeitsgericht. Dabei brachte er unter anderem vor, die ausgesprochene Kündigung sei nach § 134 BGB nichtig, da das Verfahren des § 17 KSchG – konkret die Mitteilung an die Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG – nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei.

ArbG und LAG lehnen Nichtigkeit der Kündigung ab

In erster Instanz ging das ArbG Osnabrück von der Wirksamkeit der Kündigung aus. § 17 KSchG enthalte zwar grundsätzlich einen besonders geregelten Kündigungsschutz bestehend aus dem Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG und der Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG. Während das aus der Beteiligung des Betriebsrats bestehende Konsultationsverfahren in seiner Gesamtheit dem individuellen Schutz des Arbeitnehmers vor der Massenentlassung diene, gelte dies für die Anzeigepflicht an die Agentur für Arbeit nur teilweise. § 17 Abs. 3 S. 2 und 3 KSchG sehen vor, dass der Massenentlassungsanzeige die Stellungnahme des zuvor konsultierten Betriebsrats oder, sofern sie noch nicht vorhanden ist, den Stand der derzeitigen Beratung beizufügen ist. Dadurch soll gegenüber der Agentur für Arbeit belegt werden, ob der Betriebsrat eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit sieht. Sie entfalten daher einen individuellen Schutz. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG beschreibe hingegen lediglich die Verpflichtung des Arbeitgebers, gleichzeitig mit der Einleitung des Konsultationsverfahrens der Arbeitsagentur eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten (sog. Übermittlungspflicht). Über ihren verfahrensrechtlichen Charakter hinaus könne die Agentur für Arbeit dieser Mitteilung keine Informationen zur potentiellen Vermeidung der Entlassung und damit zum Individualschutz entnehmen. Mangels individueller Schutzrichtung führe ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht – den der Kläger vorliegend geltend macht – daher nicht zur Nichtigkeit der späteren Kündigung nach § 134 BGB. Dieser Auffassung folgte auch das LAG Niedersachsen in zweiter Instanz.

Vorabentscheidungsersuchen des BAG zur Rechtsfolge bei Verstößen gegen die Übermittlungspflicht

Das BAG sah sich zu dieser Einordnung nicht befugt: Da § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG der Umsetzung von Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 der europäischen Massenentlassungs-Richtlinie (MERL) von 1998 diene, könne allein der EuGH entscheiden, ob die Norm nicht zumindest auch individualschützend wirkt. Diesen Schutzzweck erfragte das BAG daher im Wege des Vorabentscheidungsersuchens nach § 267 AEUV.

EuGH bestätigt: Kein Individualrechtsschutz durch Übermittlungspflicht

Der EuGH schloss sich im Wesentlichen der Argumentation des ArbG Osnabrück und des LAG Niedersachsen zu Art. 17 Abs. 3 S. 1 KSchG an. Er führte aus, dass die Konsultation und der Informationsfluss zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretern dynamisch seien. Einschlägige neue Informationen habe der Arbeitgeber der Arbeitnehmervertretung auch während des Verfahrens mitzuteilen, um eine effektive Beteiligung zu ermöglichen und bestenfalls Entlassungen zu vermeiden. Die Abschrift der ersten Information an den Betriebsrat, die der Arbeitsagentur nach Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL zu übersenden ist, sei daher nicht unbedingt eine endgültige. Nach Auffassung des EuGH kann die Arbeitsagentur sich nicht auf die Endgültigkeit der Informationen verlassen, sondern sich nur einen groben Überblick verschaffen. Die Übermittlungspflicht habe im Rahmen der Konsultation des Betriebsrats keine eigenständige Rolle; der Erhalt der Abschrift löse keine Verpflichtung auf Seiten der Arbeitsagentur oder gar den Lauf einer Frist für den Arbeitgeber aus. Die Abschrift diene im Ergebnis daher lediglich Informations- und Vorbereitungszwecken und nicht dem individuellen Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassungen. Ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL, umgesetzt durch § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, führe daher nicht zur Unwirksamkeit einer späteren Kündigung.

Bedeutung für die nationale Rechtslage

Das Urteil dürfte als Abkehr von der scharfen Rechtsfolge der unwirksamen Einzelkündigung zu werten sein, die das BAG bislang bei Verstößen gegen § 17 KSchG zur Anwendung berief. Europarechtlich zwingend war sie ohnehin nicht, sondern wurde mangels konkreter Vorgaben zur Rechtsfolge vom BAG in Anwendung des effet utile-Grundsatzes entwickelt.

Zwar dürfte damit die Rechtsfolge bei Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG europarechtlich geklärt sein. Offen gelassen wurde jedoch, wie im Übrigen mit Verstößen gegen das Konsultationsverfahren und die Anzeigepflicht zu verfahren ist. In dieser Hinsicht dürfte es nach der Rechtsprechung des BAG bei Verstößen weiterhin bei der Unwirksamkeit der folgenden Einzelkündigungen bleiben. Arbeitgebern ist daher anzuraten, das zweigleisige Verfahren des § 17 KSchG weiterhin einzuhalten und insbesondere auch die Agentur für Arbeit frühzeitig zu beteiligen. Dies dient nicht zuletzt der rechtssicheren Massenentlassung sowie der schnellstmöglichen Wiedereingliederung der entlassenen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt.

(EuGH-Urteil, v. 13.7.2023, C-134/22)


Weitere Beiträge:

Arbeitnehmer muss Provision für Personalvermittlung bei Eigenkündigung nicht erstatten

Kein Anspruch auf „Equal Pay“ für Leiharbeitnehmer

Entgeltgleichheit von Männern und Frauen – Anspruch auf gleiches Entgelt für gleiche Arbeit


Schlagworte zum Thema:  Arbeitsrecht, Kündigung, EuGH