Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 150
Der Arbeitgeber verstößt gegen die Anzeigepflicht, wenn die Anzeige
- entgegen § 17 Abs. 1 KSchG gänzlich unterlassen wird,
- nicht rechtzeitig vor der Entlassung erstattet wird,
- nicht schriftlich (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG) erstattet wird,
- bei der unzuständigen Agentur für Arbeit erstattet wird,
- der Arbeitsagentur ohne die Abschrift der ordnungsgemäßen Mitteilung an den Betriebsrat (§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG) zugeleitet wird,
- nicht die Stellungnahme des Betriebsrats (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG) oder – im Fall des Nichtvorliegens einer Stellungnahme – nicht eine Glaubhaftmachung über die Erfüllung der Unterrichtungspflicht sowie eine Darlegung über den Stand der Beratungen enthält (§ 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG),
- die Muss-/Pflichtangaben nach § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG fehlerhaft oder unvollständig darstellt.
Rz. 151
In allen vorgenannten Fällen ist die Anzeige im Verhältnis zur Arbeitsverwaltung nicht wirksam, es sei denn, der Fehler kann rechtzeitig geheilt werden. Der Verstoß gegen die Anzeigepflicht wird nicht als Ordnungswidrigkeit sanktioniert; das Gesetz sieht keinen entsprechenden Tatbestand vor.
Rz. 152
Nachteilsausgleichsansprüche des Arbeitnehmers aus § 113 Abs. 3 BetrVG wegen eines Verstoßes des Arbeitgebers gegen seine Anzeigepflichten nach § 17 Abs. 3 KSchG können jedoch nicht hergeleitet werden, auch nicht im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung. Die MERL steht auch nicht der Verrechenbarkeit von Sozialplanabfindung und Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG entgegen.
Rz. 152a
Allerdings hat die Unwirksamkeit der Anzeige nach bisheriger BAG-Rechtsprechung folgende kündigungsschutzrechtliche Auswirkungen im Verhältnis zum Arbeitnehmer, der entlassen werden soll:
6.6.1 Fehlen einer Anzeige trotz Anzeigepflicht
Rz. 153
Zeigt der Arbeitgeber überhaupt nicht an, obwohl er dazu rechtlich verpflichtet ist, sind die entsprechenden Kündigungen unwirksam. Dasselbe gilt für sonstige vom Arbeitgeber veranlasste Beendigungshandlungen, weil diese nach § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG Entlassungen i. S. d. Gesetzes gleichstehen (vgl. Rz. 23 ff.), sowie für sonst als Entlassung zu wertende Handlungen des Arbeitgebers (z. B. Antrag auf Zulässigerklärung der Kündigung nach § 18 BEEG, vgl. Rz. 28 ff.).
Arbeitgebervertreter sollten beachten, dass ein formaler Ansatz gilt: Die Konsultationspflicht (§ 17 Abs. 2 KSchG) und die Anzeigepflicht (§ 17 Abs. 1 und 3 KSchG) sind bei jeder Entlassung zu erfüllen, auch wenn es sich um eine "Wiederholungskündigung" oder "Nachkündigung" handelt. Kündigt der Arbeitgeber nach einvernehmlicher Rücknahme einer Kündigung nochmals im Rahmen der anzeigepflichtigen Massenentlassung, müssen bei der erneuten Kündigung die Konsultations- und die Anzeigepflicht nochmals gesondert erfüllt werden, sonst ist die erneute Kündigung unwirksam. Denn erklärt der Arbeitgeber nach Erstattung der Massenentlassungsanzeige die darin angezeigte Kündigung, ist die durch die Anzeige eröffnete Kündigungsmöglichkeit verbraucht.
6.6.2 Fehlerhafte Anzeige
Rz. 154
Erstattet der Arbeitgeber eine Anzeige bei der Arbeitsverwaltung, ist diese jedoch aus einem der o. g. Gründe fehlerhaft, gilt Folgendes:
6.6.2.1 Frühere Rechtsprechung vor "Junk"
Rz. 155
Nach früherer Rechtsprechung des BAG vor dem EuGH-Urteil in Sachen "Junk" führte ein Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Anzeigepflicht nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung (vgl. auch Rz. 15, 34, 172). Vielmehr unterlag der Arbeitgeber einer Entlassungssperre, solange keine wirksame Massenentlassungsanzeige erstattet war, d. h. der Arbeitgeber blieb während der Dauer der Entlassungssperre verpflichtet, den Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen und ihm aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs (§ 615 BGB) sein Arbeitsentgelt weiterzuzahlen. Die Entlassungssperre trat allerdings nur ein, wenn sich der Arbeitnehmer darauf berief. Die Rechtsfolgen gegenüber dem Ansatz, der von einer Unwirksamkeit der Kündigung ausging, unterschieden sich nur darin, dass bei einer bloßen Entlassungssperre der Arbeitgeber nachbessern, also die nicht erteilte Auskunft und die unterlassene Beratung nachholen konnte, während er bei der Unwirksamkeit der Kündigung erneut kündigen müsste, nachdem alle Voraussetzungen des § 17 KSchG nachgeholt worden sind.