Stephanie Thelen, Dieter Gerhard †
Rz. 109
Beim Nachschieben will der Arbeitgeber neue Kündigungsgründe in den Kündigungsschutzprozess einführen, da er – oder das Arbeitsgericht – Bedenken hat, dass die bisherigen Gründe die Kündigung nicht rechtfertigen. Kein Nachschieben liegt vor, wenn die dem Betriebsrat mitgeteilten Gründe im Prozess lediglich weiter erläutert oder konkretisiert werden (BAG, Urteil v. 27.2.1997, 2 AZR 302/96).
Der Arbeitgeber erläutert im Prozess näher, weshalb er – wie er dem Betriebsrat bereits mitgeteilt hat – den Arbeitnehmer A trotz annähernd gleicher Sozialdaten für sozial schutzwürdiger hält als den Arbeitnehmer B.
Rz. 110
In welchen Fällen Kündigungsgründe zulässigerweise nachgeschoben werden können, ist umstritten. Nach richtiger Auffassung des BAG können Gründe, die dem Arbeitgeber bereits bei Einleitung des Anhörungsverfahrens gem. § 102 BetrVG bekannt waren, die er aber dem Betriebsrat nicht mitgeteilt hat, nicht nachgeschoben werden (BAG, Urteil v. 18.10.2006, 2 AZR 676/05; BAG, Urteil v. 6.10.2005, 2 AZR 316/04; BAG, Urteil v. 22.9.2005, 2 AZR 365/04, st. Rspr.). Insoweit besteht ein betriebsverfassungsrechtliches Verwertungsverbot (BAG, Urteil v. 27.3.2003, 2 AZR 699/01).
Hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat eine in der Vergangenheit liegende Abmahnung nicht mitgeteilt, kann er diese nicht in den Kündigungsschutzprozess einführen, da erst hierdurch die verspätete Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überhaupt kündigungsrechtlich relevant würde (BAG, Urteil v. 18.12.1980, 2 AZR 1006/78)
Rz. 111
Hat der Arbeitgeber bei der getroffenen Sozialauswahl bestimmte Arbeitnehmer übersehen oder nicht für vergleichbar gehalten und deshalb insoweit dem Betriebsrat die für die soziale Auswahl (objektiv) erheblichen Umstände zunächst nicht mitgeteilt, so darf er auf entsprechende Rüge des Arbeitnehmers im Prozess insoweit seinen Vortrag ergänzen, ohne dass darin ein nach § 102 BetrVG unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen gesehen werden kann. Zwar kann sich der Arbeitgeber im Prozess nicht auf Kündigungsgründe oder für einen Kündigungssachverhalt wesentliche Umstände berufen, die er dem Betriebsrat nicht mitgeteilt hat. Die objektive Darlegungs- und Beweislast für eine fehlerhafte Sozialauswahl obliegt zunächst dem Arbeitnehmer. Erst auf dessen Vortrag hin kann der Arbeitgeber zunächst übersehene oder auch zu Unrecht für unerheblich gehaltene Umstände für die soziale Auswahl substantiiert vortragen. In diesem Vortrag liegt deshalb nur eine Konkretisierung des bisherigen und kein nach § 102 Abs. 1 BetrVG unzulässiges Nachschieben eines neuen Kündigungssachverhalts (BAG, Urteil v. 7.11.1996, 2 AZR 720/95; LAG Hamm, 17.12.2008, 2 Sa 1020/08).
Rz. 112
Ein nur eingeschränktes Verwertungsverbot gilt für Tatsachen, die dem Arbeitgeber bei Einleitung des Anhörungsverfahrens und bei Ausspruch der Kündigung nicht bekannt waren. Derartige Tatsachen kann der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess nachschieben, wenn er das Anhörungsverfahren nachholt (BAG, Urteil v. 27.3.2003, 2 AZR 699/01). Er kann auch vor Ausspruch der Kündigung seine Informationen gegenüber dem Betriebsrat jederzeit ergänzen (BAG, Urteil v. 6.2.1997, 2 AZR 265/96). Ist das Anhörungsverfahren schon beendet, muss der Arbeitgeber den Betriebsrat erneut beteiligen (BAG, Urteil v. 6.2.1997, 2 AZR 265/96). Bei einer fehlerhaften Betriebsratsanhörung ist ein Nachschieben von Kündigungsgründen aber nicht möglich.
Rz. 112a
Eine ordnungsgemäße Anhörung erfordert, dass ein Vertreter des Arbeitgebers seine Informationen auch intern vollständig weitergibt und die Bereitschaft mitbringt, für eine sachgerechte Unterrichtung des Betriebsrats Sorge zu tragen. Das ist regelmäßig nicht der Fall, wenn dieser seinerseits in die Handlungen gegen die Interessen des Arbeitgebers verstrickt ist und bei Offenlegung des Kündigungssachverhalts Nachteile für sich selbst befürchten müsste. Handelt es sich objektiv um eine solche Situation, ist es – auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach § 2 Abs. 1 BetrVG gerechtfertigt, für die Kenntnis des Arbeitgebers nicht auf den Wissensstand des "verstrickten" Vertreters, sondern auf den eines ordnungsgemäß handelnden Vertreters oder Organmitglieds abzustellen (BAG, Urteil v. 18.6.2015, 2 AZR 256/14).