Agile Personalauswahl: Definition, Prozess, Leitfaden
Die agile Personalauswahl ist - wie der Name schon verrät - angelehnt an die agile Arbeitsweise in Softwareprojekten: Die agile Programmierung läuft in kleinen Entwicklungsschleifen ab, in denen konstant und fast gleichzeitig geplant, entwickelt, getestet und mit dem Kunden abgeglichen wird. Grundlage für die Arbeit ist dabei kein Pflichtenheft ("Wie soll die Software im Einzelnen funktionieren?"), sondern eine an der Funktion ausgerichtete "User Story" ("Was soll die Software erreichen und ermöglichen?").
Agile Arbeitsweise: User Story steht im Fokus des Personalauswahlprozesses
So funktioniert auch die agile Personalauswahl. Anstatt in ausgetüftelten Entwicklungs- und Validierungsrunden ein Anforderungsprofil zu erstellen ("Wie soll der Bewerber oder die Bewerberin funktionieren?") und im Vorfeld zu definieren, wie man dies im Detail erkennen kann, steht eine an der Funktion ausgerichtete "User Story" ("Was soll der Bewerber oder die Bewerberin erreichen und ermöglichen?") im Fokus.
In der agilen Personalauswahl definieren wir mit der User Story also das Ziel, aber wir lassen den Weg dorthin offen. Damit verbinden wir die Notwendigkeit von Struktur und Anforderungsbezug mit dem Wunsch nach Flexibilität und Individualität. Wir fokussieren uns auf das Potenzial der Bewerber im Hinblick darauf, wie sie auf der Zielposition bestimmte Aufgaben und Herausforderungen erfolgreich meistern können, ohne im Detail vorzugeben, mit welchen individuellen Qualitäten dies erreicht werden muss.
Erstellung von User Stories in der Personalauswahl
User Stories haben eine einfache Form und sie können in kleinen Referenzgruppen auf der Basis von Erfahrung und gesundem Menschenverstand entwickelt werden. Das Muster lautet: "Als (Stakeholder) möchte ich (Funktionalität), um folgenden Nutzen zu erhalten: ..." User Storys bezeichnen also immer eine Handlung, ein für eine Funktion wichtiges Verhalten und keine Eigenschaften, Motive oder Werthaltungen. Aus Gründen der Praktikabilität sollten maximal vier bis sechs User Stories pro Position definiert werden. Diese sollten idealerweise unterschiedliche Aspekte der Position abbilden, also zum Beispiel fachliche, methodische und soziale Herausforderungen gegenüber unterschiedlichen Zielgruppen.
Ein Beispiel für User Stories für eine Leiterin der Produktionslogistik:
- Als Werksleitung benötige ich von der LP die für meine Produktionsprozesse benötigten Materialien und Rohlinge, sodass ich auf Kundenbedarfe in der Produktion schnell und flexibel reagieren kann.
- Als Finanzleitung erwarten wir von der LP eine sparsame Lagerwirtschaft und eine präzise Aufbereitung von Planungsdaten und Istzahlen, um die Produktionsprozesse so wirtschaftlich wie möglich zu gestalten.
- Als Mitarbeiter in der Produktionslogistik suchen wir mit der LP eine Chefin, die uns im Rahmen der gemeinsam entwickelten Ziele Freiräume gewährt und uns bestmöglich sowohl fachlich, koordinativ als auch menschlich unterstützt, damit wir gut arbeiten und uns weiterentwickeln können.
Fragen für das agile Vorstellungsgespräch
Aufbauend auf den User Storys sind passende Fragen oder Aufgaben im agilen Auswahlprozess zu überlegen. Am einfachsten ist es bei der Auswahl geeigneter Fragen und Aufgaben. Es geht darum, die Kandidaten einfach konkret danach zu befragen, wie sie diese Aufgaben bewältigen, diese Ziele erreichen und diese Herausforderungen meistern wollen und können.
Bedienen Sie sich dabei aller drei möglichen diagnostischen Zugänge:
- biografisch aus der Vergangenheit (wie haben Sie etwas Ähnliches in ihrer bisherigen Karriere gelöst?)
- situativ aus der Zukunft (wie würden Sie so etwas bei uns lösen?)
- konkret aus der Interaktion mit den Beobachtern im Hier und Jetzt (wie lösen Sie etwas im Rollenspiel oder im Antwortverhalten jetzt in diesem Moment mit mir als Interviewenden?).
Interviewleitfaden dient als Erinnerungshilfe
Ein Interviewleitfaden dient als Erinnerungshilfe, um alle wichtigen Bereiche der User Story abzudecken und um bestimmte "gute Fragen" nicht zu vergessen. Situative, szenariobasierte Fragen oder Arbeitsproben können dabei helfen: Stellen Sie sie allen Kandidaten und sorgen Sie damit für eine gewisse Vergleichbarkeit der Antworten.
Elementar für den Erfolg des Vorstellungsgesprächs ist es, dass die Kandidaten den Sinn und die Zielsetzung Ihrer Fragen richtig verstehen. Sie wollen ja nicht herausfinden, wie gut die Bewerber mehr oder weniger zufällig Ihre Intentionen erraten, sondern Sie wollen gezielt die mit der Frage verbundenen Lösungswege kennenlernen. Dies kann nur gelingen, wenn die Kandidaten wissen, worauf Sie hinauswollen. Erklären Sie darum, was Sie wissen wollen, und warum Sie es wissen wollen. Damit steigern Sie den diagnostischen Gehalt der Antwort und Sie reduzieren die Gefahr, dass Ihre Kandidaten nervös werden und nicht mehr ihre vollen Potenziale abrufen können.
Qualität der Beobachtung im Vorstellungsgespräch
Die Qualität unserer Beobachtung – und die Qualität, mit der wir unsere Beobachtungen dokumentieren – ist vielleicht das Wichtigste am gesamten Auswahlprozess. Denn wenn wir uns nicht täuschen lassen wollen von unserem Bauchgefühl, das sich im Zweifelsfall ja immer zu den uns vertrauten und sympathischen Verhaltensweisen hingezogen fühlt, müssen wir uns eine gute Grundlage aufbauen, um anschließend unsere Bewertung bewusst reflektieren zu können.
Wichtig ist es darum, sich während des Gesprächs so viele Notizen wie möglich zu machen und diese Notizen so konkret wie möglich auf beobachtbare Inhalte und Verhaltensweisen zu beschränken. Es ist dabei elementar, auf Bewertungen so weit wie möglich zu verzichten. Denn ob ein Verhalten gut oder schlecht, nützlich oder weniger zielführend in Bezug auf eine Zielposition ist, das können wir zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht beurteilen. Unwillkürlich formen wir dazu natürlich Hypothesen und unser Gehirn macht uns kontinuierlich Bewertungsvorschläge auf der Basis unseres Erfahrungswissens - zum Beispiel: "redet leise und zurückhaltend", "wirft den Kopf selbstbewusst nach hinten", "schnaubt arrogant" oder "verschränkt abweisend die Arme vor dem Körper".
Wichtig ist es an dieser Stelle, diesen intuitiven Kategorisierungsimpulsen nicht zu folgen, sondern stattdessen erst recht wertneutral und offen einfach nur zu protokollieren, was wir verbal und nonverbal wahrnehmen. Gut geeignet hierfür sind zum Beispiel wörtliche Zitate.
Strukturiertes Vorgehen in der Entscheidungsfindung
Wie kommt man nach dem agilen Vorstellungsgespräch gemeinsam mit den anderen Interviewenden zu einer Bewertung der Kandidaten? Hier lässt sich eine strukturierte Vorgehensweise anwenden.
- Lesen Sie zunächst ihre User Storys nochmal und gehen dann Ihre Notizen noch einmal durch. Geben Sie anschließend – zunächst jede/r für sich – für jede User Story auf einer Schulnotenskala Noten (1= wird die User Story vermutlich sehr gut erfüllen können, 2 = gut, 3 = befriedigend, 4 = ausreichend, 5 = mangelhaft, 6 = ungenügend), je nachdem, wie Sie die Erfolgswahrscheinlichkeiten des Bewerbers oder der Bewerberin beurteilen. Tragen Sie diese Bewertungen dann gemeinsam auf einem großen Flipchart oder einer Metaplanwand zusammen.
- Vergleichen Sie dann mit den anderen Beobachtern in einer offenen Diskussion Ihre Ergebnisse und begründen Sie, warum Sie zu welcher Beurteilung gekommen sind. Suchen Sie dabei gemeinsam in Ihren jeweiligen Mitschriften gezielt nach möglichen Widersprüchen oder Interpretationsspielräumen.
- Schließlich korrigieren Sie vor dem Hintergrund der Durchsicht Ihrer Beobachtungen und der gemeinsamen Diskussion gegebenenfalls Ihren Zahlenwert und versuchen Sie, sich auf ein Ergebnis zu einigen. Notieren und diskutieren Sie innerhalb der Gruppe die Fragezeichen und offenen Themen, die es in einem späteren zweiten Auswahlschritt vertieft zu überprüfen gilt. Fassen Sie kurz schriftlich zusammen, wo aus Ihrer Sicht die Stärken und Potenziale und wo die Schwächen und Lernfelder des Kandidaten liegen.
Drei Grundsätze für den Entscheidungsprozess
Von entscheidender Bedeutung ist, dass Sie sich im Bewertungsprozess an die folgenden drei Grundsätze halten:
- Keine Bewertung ohne Beobachtung. Ein Eindruck, der nicht an einer Beobachtung festgemacht und damit begründet werden kann, fließt nicht in die Bewertung ein.
- Keine Bewertung ohne Reflexion. Jedes Urteil muss dahingehend überprüft werden,
- ob es auf Eindrücken beruht, die die anderen Beobachter teilen,
- ob die Eindrücke wirklich für die User Story relevant sind,
- ob es auf eindeutigen Indizien beruht oder ob es auch gegenläufige Beobachtungen gab,
- ob der Eindruck durch die Art der Frage von den Interviewenden selbst so ausgelöst wurde und
- welche sinnvolle Erklärung es für das Verhalten aus Sicht des Kandidaten geben könnte.
- Keine Bewertung ohne Befragung. Jede User Story muss Bestandteil des diagnostischen Prozesses sein, wenn sie bewertet werden soll. Sind für eine Vakanz zum Beispiel sechs User Stories relevant, in Interview 1 werden aber nur die User Stories 1 bis 3 abgeprüft, in Interview 2 dagegen die User Stories 4 bis 6, dann ist der Auswahlprozess unbrauchbar.
Hinweis: Dies ist ein Auszug aus dem Buch "Agile Personalauswahl -erfolgreiche Vorstellungsgespräche im Kontext von Innovation und Vielfalt", das bei Haufe erschienen ist.
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