Bewerbungsunterlagen: Wenn die Verpackung wichtiger ist als der Inhalt


Kolumne Psychologie: Interpretation von Bewerbungsunterlagen

So mancher Mythos geistert durch die Personalabteilungen - gerade wenn es um psychologisches Wissen geht. Professor Uwe P. Kanning klärt in seiner monatlichen Kolumne über die Fakten auf. Heute: Warum die Auswertung von Bewerbungsunterlagen völlig überschätzt wird.

Glaubt man der einschlägigen Ratgeberliteratur, so handelt es sich bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen um eine Art Geheimwissenschaft, in der ewige Wahrheiten von einer Generation an die nächste weitergereicht werden. Schon früh lernen die Novizen von ihren weisen Meistern, wie man anhand vielfältigster Kriterien tief in die Psyche eines jeden Bewerbers einzudringen vermag.

Hierzu darf kein noch so banal erscheinendes Detail der Bewerbung ungedeutet bleiben: Hat der Kandidat zwischen Stellenausschreibung und Bewerbung nur wenige Stunden verstreichen lassen, so spricht dies glasklar für hohe Bedürftigkeit bei gleichzeitig mangelnder Befähigung. Ihn lässt man ziehen, ohne seine Unterlagen eines Blicks zu würdigen. Kommt die Bewerbung hingegen kurz vor Ablauf der gesetzten Frist an, so hat dem Bewerber sein Unterbewusstsein ein Schnippchen geschlagen. Eigentlich ist er völlig desinteressiert, er hat es nur noch nicht erkannt. Weiße Briefumschläge spiegeln die wahrhaftige Unschuld des jungfräulichen Bewerbers. Sonderbriefmarken sprechen hingegen für gesellschaftspolitische Reife. Je schwerer die Unterlagen wiegen, desto gewichtiger sind auch die Kompetenzen des Menschen. An übersichtlichen Lebensläufen erkennt man den strukturierten Denker und Tippfehler sind mindestens so aussagekräftig wie die Länge des Anschreibens oder die Handschrift. Wie gut, dass es auf Arbeitgeberseite alte Hasen und Häsinnen gibt, die – mit der Fantasie und Selbstgenügsamkeit eines Psychoanalytikers ausgestattet – selbst gut verborgene Botschaften virtuos entschlüsseln können.

Umfrage zeigt: Zu viele absurde Merkmale werden interpretiert

Doch vielleicht täuschen wir uns. Möglicherweise spiegelt die Ratgeberliteratur die wahren Verhältnisse in deutschen Unternehmen ja verzerrt wieder. Warum fragt man nicht einfach die Betroffenen? – Gesagt, getan. In einer Umfrage unter 244 Personalverantwortlichen deutscher Unternehmen ergab sich das folgende Ergebnis:

  • Völlig absurde Kriterien werden eher selten eingesetzt: Handschriftendeutung (zwei Prozent der Unternehmen), Gewicht der Mappe (zwei Prozent), Qualität der Briefmarke (2,9 Prozent), Farbe der Bewerbungsmappe (3,7 Prozent) sowie die Qualität des Briefumschlags (7,8 Prozent). Bedenkt man aber, dass sich im Lauf eines Jahres in diesen Unternehmen nicht selten ein paar hundert Personen bewerben, so dürften letztlich einige tausend Menschen von derartigen Unsitten betroffen sein. Da lässt sich wenig machen. Die Aufklärung ist halt noch nicht bis in jeden Winkel der Republik vorgedrungen.
  • Im Mittelfeld der Einsatzhäufigkeit findet sich eine bunte Sammlung von Deutungen, die auch mit viel Wohlwollen keiner kritischen Betrachtung standhalten können: Reaktionszeit zwischen Ausschreibung und Bewerbung (25,4 Prozent), Papierqualität (26,6 Prozent), Länge des Anschreibens (38,9 Prozent) und Geruch der Mappe (42,2 Prozent). Obwohl der Gesetzgeber seit 2006 verbietet, Fotos anzufordern, legen 41,8 Prozent der Unternehmen den Stellensuchenden ein fehlendes Foto negativ aus.
  • Unter den Top 10 finden sich Kriterien, die nachvollziehbar etwas über die berufliche Qualifikation der Bewerber aussagen können – Berufserfahrung (91,4 Prozent), Tätigkeitsbeschreibung im Arbeitszeugnis (84,8 Prozent) und Weiterbildung (82 Prozent) –, allerdings völlig gleichberechtigt neben solchen, die sich auf die formale Gestaltung der Unterlagen beziehen: Flecken (88,5 Prozent), Übersichtlichkeit des Lebenslaufs (85,7 Prozent), Grammatikfehler (87,3 Prozent) sowie Tippfehler (88,1 Prozent). Offenbar glaubt man, dass sich in der Form der Unterlagen die Persönlichkeit spiegelt, ganz nach dem Motto „Nachlässige Form entspricht nachlässigem Menschen“. Die viel einfachere Erklärung, dass zum Beispiel Bewerber mit Tippfehlern nicht wissen, wie man die Wörter richtig schreibt und auch niemanden haben, der ihnen hilft, vermag den Ehrgeiz des Hobby-Psychoanalytikers nicht zu befriedigen. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
  • Interessanterweise misst man der Fachlichkeit sowie der intellektuellen Leistungsfähigkeit eine nur mittelmäßige Bedeutung bei: Berufsausbildung (67,2 Prozent), Durchschnittsnote im Schulzeugnis (30,3 Prozent) und Durchschnittsnote im Ausbildungszeugnis (47,1 Prozent). Während man Schul- und Ausbildungsnoten mit großer Skepsis begegnet, vertraut man der Leistungsbewertung im Arbeitszeugnis fast schon blind (82,4 Prozent), obwohl doch eigentlich jeder weiß, dass der Gesetzgeber aussagekräftige Bewertungen verboten hat.

Aussage der Bewerbungsunterlagen wird überschätzt

Aus Sicht der Forschung handelt es sich bei den Bewerbungsunterlagen um ein äußerst stumpfes Schwert der Personalauswahl. Belegt ist lediglich, dass die Fachlichkeit, die Vielfalt der Berufserfahrung – und nicht so sehr die Dauer – sowie Durchschnittsnoten aussagekräftig sind. Sämtliche formale Kriterien bewegen sich im Bereich der völligen Spekulation. Dabei wird die Spekulation keineswegs gehaltvoller, wenn sie von vielen Kollegen geteilt wird.

Wer sich in starkem Maße von formalen Kriterien oder von Kriterien mit sehr fragwürdiger Validität leiten lässt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit viele Kandidaten zu früh aus dem Auswahlprozess nehmen. Da man sie nicht weitergehend untersucht, wird man nie erfahren, wie viele gravierende Fehlentscheidungen gefällt wurden. Dies wiederum schmeichelt den Verantwortlichen und nimmt ihnen zugleich die Chance, aus eigenen Fehlern zu lernen. In Zeiten, in denen die Menge gut qualifizierter Bewerber abnimmt, kann man sich eine solche Praxis eigentlich nicht mehr leisten. Das Nadelöhr der Bewerbungsmappensichtung sollte möglichst groß gehalten werden, denn Fehler im Sinne einer zu positiven Vorauswahl lassen sich im Nachhinein leicht korrigieren. Sinnvoll erscheint zudem eine Vorauswahl der Bewerber mit aussagekräftigen Leistungstests. Aber all das macht natürlich nicht so viel Spaß wie das Rumdeuteln an irgendwelchen Kleinigkeiten und das unbeschwerte Ausleben des eigenen Bauchgefühls.

Bewerbern kann man angesichts dieser Praxis eigentlich nur eines raten: Vergesst euer Studium, die guten Noten, Auslandsaufendhalte & Co. Was zählt, ist letztlich die Verpackung. Bewerber müssen in erster Linie nicht gut sein, sie müssen gefallen – "C’est la vie"…

Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.

Schlagworte zum Thema:  Personalauswahl, Personalarbeit