Desksharing: Weggegangen, Platz gefangen
"Mich erinnert das an die Reise nach Jerusalem", so kommentierte Jan Slaby, Professor für Philosophie an der FU Berlin, 2015 die Desksharing-Pläne von Microsoft für die neue Deutschlandzentrale gegenüber der Computerwoche. Das ist sieben Jahre her. Inzwischen haben die Pandemie, der damit einhergehende Digitalisierungsschub und die Erkenntnis, dass insbesondere Büroarbeit zumindest teilweise auch von zu Hause oder unterwegs funktioniert, die Arbeitswelt verändert. Je nach Befragung schwanken die Angaben, wie viele Unternehmen einen Wechsel ihrer Bürobeschäftigten zwischen Präsenz- und Remote-Arbeit planen, zwischen 50 Prozent und gar 80 Prozent. Die Konsequenz scheint logisch, die Lösung pragmatisch: Wer nicht jeden Tag seinen Büroarbeitsplatz benötigt, kann diesen für andere Mitarbeitende zeitweise freigeben.
Skepsis gegenüber Desksharing weit verbreitet
Eine Idee, der allerdings nicht nur viele Beschäftigte, sondern auch manche Führungskräfte, die den Verlust ihres Einzelbüros befürchten, skeptisch gegenüberstehen. Die psychopolitische Lage habe sich auch unter dem Einfluss der Pandemie nicht verändert, erklärt Slaby. Gehe Desksharing mit dem Abbau der Büroarbeitsplätze einher, sei die Gefühlslage vieler Beschäftigter auch heute noch die gleiche wie beim Spiel um den fehlenden Stuhl. "Eine Mischung aus Stress, Angst und Gespanntheit – gewonnen hat, wer einen Sitzplatz ergattert", beschreibt Philosoph Slaby, was er in Büros sieht. "Kommt in Unternehmen das Thema Desksharing auf, reagieren viele Mitarbeitende zunächst eher kritisch und zurückhaltend", bestätigt auch Kerstin Hillbrink, Beraterin Gesundheitsmanagement bei der BAD Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH. Viele Beschäftigte würden mit ihrem Arbeitsplatz auch eine gewisse Sehnsucht nach "Heimat" und nach Individualität verbinden. "Wenn wir uns Schreibtischarbeitsplätze anschauen, sehen wir ganz viel Persönliches: Familienfotos, Bilder, Geburtstagskarten der Kollegen und Kolleginnen und Ähnliches", erklärt die Diplompsychologin.
Kostenaspekte geben ein anderes Bild: Schon ohne hybride Arbeitsmodelle seien Büroarbeitsplätze, berücksichtige man Urlaube, Krankheitstage und Dienstreisen, maximal zu 65 Prozent belegt, rechnet Jens Warkentin, Vorstand Personal bei HDI, vor. "Unter betriebswirtschaftlichen Überlegungen sind leerstehende Einzelbüros nicht tragbar", erklärt er. In einer neuen konzernweiten "New-Work-Vereinbarung" wurden bei HDI deshalb hybride Arbeitsmöglichkeiten klar geregelt: Mitarbeitende haben die Möglichkeit, null bis 60 Prozent der Arbeitstage im Kalenderquartal in Abstimmung mit ihrer Führungskraft mobil zu arbeiten. Dies wird zusätzlich von dem Desksharing-Modell "Dynamic Spaces" unterstützt, welches sukzessive an allen Standorten ausgerollt werden soll. Dazu werden die früheren Büroflächen zu Desksharing-Zonen, Interaktions- und Kommunikationsflächen umgebaut. "Da wir unsere Flächen für die Maximalbelegung dimensioniert haben, ist es gar kein Problem, hier Platz für die Interaktionsflächen abzuknapsen", erklärt der HDI-Personalchef.
Angst vor Verlust der Privatsphäre
Nun ist die Idee, sich Arbeitsressourcen zu teilen und ihre Auslastung zu optimieren, keineswegs neu, sondern beispielsweise auch Basis der Schichtarbeit in der Produktion. Hier käme niemand auf die Idee, sich "seinen" Platz am Fließband mit Familienfotos und Topfpflanzen persönlich einzurichten, um sich seine Motivation zu erhalten. Warum also stellt die Idee, fortan den Arbeitsplatz zu teilen, für viele Mitarbeitende eine so große Bedrohung dar? Es sei bei vielen Beschäftigten insbesondere die Angst vor Veränderung und Unbekanntem, erklärt Hillbrink, insbesondere wenn noch keine Erfahrung mit dem Konzept vorliege. "In psychosozialen Beratungen erlebe ich Menschen, die lieber in sehr unbefriedigenden Situationen verharren, als etwas Neues zu wagen. Alles, was sie nicht kennen, löst erst einmal Unsicherheit und im schlimmsten Fall auch Angst aus."
Das Thema "Angst vor dem Verlust der Privatsphäre" kennt auch Warkentin. Doch das Problem lässt sich seiner Ansicht nach einfach lösen: "Man muss einmal gesehen haben, was passiert. Wir haben eine Musterfläche an unserem Standort in Hilden gebaut; die Mitarbeitenden, die das gesehen haben, finden es super. Und es gibt auch Rückzugsflächen, das ist die sogenannte Bibliothek, in denen einen keiner anspricht."
Hybride Arbeit braucht mehr als Desksharing
Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Teilung der Bürotische ist der aktuelle Siegeszug des hybriden Arbeitens – einem Arbeitsmodell, das weit mehr beinhaltet als nur den Wechsel zwischen dem Heim- und dem Büroschreibtisch, gleichgültig ob alleine oder zu mehreren genutzt. Vor allem die Beweggründe der Beschäftigten, die Unternehmensstätten aufzusuchen, haben sich in der hybriden Arbeitswelt geändert. Der Unternehmenscampus ist zum Ort der Begegnung und Kollaboration geworden, er dient der Ideenfindung und dem Austausch. Für viele Beschäftigte gilt jetzt: Einsame Einzelarbeit kann zu Hause erledigt werden. Wer ins Büro kommt, will Begegnung und Aktivität. Diese Veränderungen brauchen neue Arbeitsplatz- und Bürokonzepte, die die neuen Arbeitsweisen unterstützen. "Desksharing" wird unscharf als Begriff für diese räumlichen Veränderungen verwendet, tatsächlich aber geht es darum, Beschäftigten eine Mischung aus unterschiedlichen Arbeitsplätzen anzubieten, je nach Aufgabe und Vorhaben. "Task Based Working" oder "Activity Based Working" heißt diese Organisationsstruktur, die auf der Auflösung von Arbeitsplätzen und starren Raumstrukturen basiert.
Henriette Weiß, Global Head of Workplace Solution bei Philips, ist dort für die Einführung neuer Arbeitsplatzkonzepte weltweit zuständig. Sie führt die negativen Erfahrungen mit Desksharing-Modellen auf ein grundlegendes Missverständnis zurück: "Viele Unternehmen und ihre Beschäftigten denken, es gehe dabei nur darum, Tische zu teilen und so Fläche beziehungsweise im Endeffekt Kosten einzusparen." Desksharing werde häufig als Startpunkt der Veränderung gesehen, tatsächlich aber sei das Teilen der Tische nur eines von mehreren Ergebnissen eines funktionierenden Task-Based-Working-Konzepts, erklärt die Architektin und fährt fort: "Natürlich braucht man bei diesem Konzept weniger Tische, aber das wird ausgeglichen durch Fokusräume, Kreativ-, Kollaborations- und Interaktionsflächen."
Das Büro als Ort des Austauschs und der Zusammenarbeit
Weiß ist überzeugt, dass starre Konzepte hier nicht helfen. Ein häufiger Fehler sei, dass bei der Veränderung der Büroflächen die Aufteilung nicht stimme. Geklärt werden müsse im Vorfeld ganz genau, welche Aufgaben die Beschäftigten haben, welche Arbeitsweisen im Unternehmen gewünscht sind und was dafür benötigt wird. "Es gibt gewisse Standardelemente. Aber in welchem Verhältnis diese Bausteine eingesetzt werden, muss unternehmens- oder standortindividuell bestimmt werden", erklärt sie. Bei Philips werden dazu Umfragen unter den Mitarbeitenden durchgeführt, die Daten analysiert und daraus eine Matrix mit den Ansprüchen und Arbeitsabläufen als Grundlage der Planung entworfen. Einzelinterviews mit den Beschäftigten ergänzen die Umfragen und sind Teil des Changemanagements.
Vom Gerangel um die schönsten Schreibtische scheint dieses Konzept weit entfernt. Auch bei HDI gehe es den Beschäftigten, die ins Büro kommen, nicht darum, den schönsten freien Schreibtisch zu besetzen, erklärt Warkentin. "Konzentriert arbeiten kann jeder zu Hause. Wer jetzt ins Büro kommt, will Austausch und mit anderen zusammenarbeiten." Jedes Team habe deshalb bei HDI eine Homebase, an der es sich trifft. Von dort aus werden die für die anstehenden Arbeiten passenden Arbeits- oder Kollaborationsmöglichkeiten gewählt.
In vielen Unternehmen läuft das allerdings noch anders. Aktuelle Ergebnisse der Konstanzer Homeoffice-Studie zeigen, dass eine hybride Arbeitskultur in den wenigsten Unternehmen tatsächlich gelebt wird. Danach sind nur bei einem Drittel der befragten Beschäftigten, die zwischen Homeoffice und Unternehmen wechseln, die Präsenzzeiten so gestaltet, dass sie für gemeinsame Meetings und Interaktion genutzt werden. Und, so ein weiteres Studienergebnis, auch nur ein Drittel der Befragten wurde bei der Entwicklung der hybriden Arbeitsmodelle einbezogen. Ein Grundfehler, erklärt Weiß: "Beschäftigte, die das Konzept nicht kennen und bei der Entwicklung nicht mit einbezogen wurden, wissen nicht, wie sie die neue Umgebung nutzen können. Sie suchen sich einen Platz, hängen die Jacke über die Stuhllehne und verharren genau dort. Schon funktioniert das gesamte Konzept nicht mehr."
Desksharing: Eine Frage von Organisation und Überzeugung
Bei der Organisation der zu nutzenden Räume, Flächen und Schreibtische hilft Workspace Management Software. Damit können die Beschäftigten im Voraus die benötigten Arbeitsplätze, Meeting- und Kollaborationsflächen buchen. "Der große Vorteil einer solchen Buchungslösung ist, dass die vorhandenen Flächen nahezu ohne Leerstand ausgenutzt werden können", erklärt Marius Jarzyna, Mitbegründer und Geschäftsführer von Desknow. "Arbeitsplätze, die zwar gebucht, aber nicht genutzt werden, gibt das System wieder frei. Damit haben wir einen der größten Kapazitätsfresser ausgehebelt." Auch wenn ausreichend Interaktions- und Kollaborationsflächen, Pausenräume und Rückzugsmöglichkeiten eingeplant sind, lassen sich so beim Umbau von klassischen Büros zu hybrid nutzbaren Arbeitsräumen zwischen 30 und 40 Prozent der vorherigen Fläche einsparen, meint Jarzyna.
Aber auch die beste Workspace Management Software hilft nicht, wenn kein Konzept dahinter steht“, erklärt Andreas Varnholt, Geschäftsführer von Mediadialog, der mit der Lösung „Raum für Raum“ ebenfalls Lösungen für Desksharing anbietet. Die Software sei immer nur das ausführende Element, führt Varnholt aus, die die Vorstellung des Unternehmens bestmöglich umsetze. „Bei vielen Unternehmen wird auf Basis eines „Vor-Konzepts“ eine Pilotphase mit unterschiedlichen Abteilungen implementiert um damit eine Art „proof of concept“ zu haben. Das Feedback aus diesen Abteilungen wird dann in das finale Konzept mit eingearbeitet, welches Schritt für Schritt im Arbeitsumfeld mit Hilfe der ausgewählten Software eingeführt wird“, beschreibt er die wichtigsten To-Dos der Umsetzung.
Desksharing: Wenn Beschäftigte sich weigern
Und wenn Mitarbeitende das Konzept trotz allem partout nicht annehmen wollen, weil sie am liebsten konzentriert und alleine am Schreibtisch sitzen? Dann löst vielleicht alleine die Zeit das Problem – so geschehen bei der Norisk Group aus München. Das IT- und E-Commerce-Unternehmen führte bereits 2011, insbesondere weil die Firmenräume aufgrund des starken Wachstums nicht mehr ausreichten, Desksharing ein. "Wir haben allerdings damals die Idee einfach top-down durchgesetzt“, gibt Geschäftsführer Christian Elsner zu, „ohne darauf zu hören, was unsere Beschäftigten tatsächlich wollten oder brauchten." Ergebnis: Das Konzept floppte, die Mitarbeitenden waren unglücklich, das Unternehmen kehrte wieder zur herkömmlichen Arbeitsweise mit persönlichen Arbeitsplätzen für alle Beschäftigten zurück. Das lief bis zur Pandemie so. Doch nun, nach Lockdowns und viel Homeoffice, stellt Elsner in seinen Büros eine spürbare Veränderung fest: "Die Leute haben quasi von sich aus angefangen, sich themenbedingt zusammenzusetzen. Das passiert – sehr rücksichtsvoll – mal am gerade freien Arbeitsplatz anderer Kollegen, mal in Nebenräumen, wie in einer Vorstufe reiner Collaboration Spaces. Die Organisation scheint zu lernen, sich nach den Bedürfnissen der Arbeit ihre eigene Arbeitsumgebung zu schaffen."
Dieser Beitrag ist zuvor in leicht veränderter Form in Personalmagazin Ausgabe 4/2022 erschienen. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.
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