Leitlinien zum Umgang mit Hinweisgebern und Hinweisen
Eigentlich ein exzellenter Plan: Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden sollen laut Vorgabe der EU ein Hinweisgebersystem einrichten, um Missstände im eigenen Haus schneller erkennen und eliminieren zu können. Für die verantwortlichen Whistleblower sieht der Gesetzentwurf außerdem den Schutz vor Repressalien durch den Arbeitgeber vor.
Nun verweigerte der Bundesrat seine Zustimmung. Doch ist davon auszugehen, dass ein neuer Entwurf gefunden werden wird, allerdings wird dieser nicht wie geplant bereits zum April 2023 umgesetzt werden können. Für Unternehmen hat die Verzögerung etwas Gutes: Ihnen bleibt mehr Zeit, sich auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten. Denn dieses Projekt verlangt Aufmerksamkeit und strategische Planung.
Umgang mit Whistleblowern ist eine Kulturfrage
Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie ist nicht hauptsächlich eine Frage der technischen oder juristischen Machbarkeit, wie das Lesen des Gesetzes vermuten lässt. Zu weit mehr Auswirkungen wird die Kulturveränderung führen. Fühlen potenzielle Hinweisgebende sich vom Gesetzgeber geschützt, so steigt die Chance, dass sie Missstände benennen. Dieser Prozess ist für viele Unternehmen neu. Es gibt oft noch keine Leitlinien, Empfehlungen oder gar Erfahrungswerte für den Umgang mit hinweisgebenden Personen oder mit den Hinweisen selbst.
Das Thema Hinweisgeberschutz ist für die allermeisten Unternehmen ein Thema, das zu echten und tiefgreifenden Veränderungen in der Unternehmenskultur führt. Es braucht menschliche und ethische Antworten auf Fragen, die Organisationen sich oftmals noch nicht gestellt haben.
Um die Unternehmenskultur darauf auszurichten, müssen alle gemeinsam wirken: die Unternehmensleitung, die Organisationsentwicklung, HR, Compliance und auch die Interne Kommunikation. Es gilt, die Unternehmenskultur gemeinsam mit den Mitarbeitenden so auszugestalten, dass Arbeitnehmende sich gesehen fühlen und es wagen, Missstände zu benennen – notfalls auch anonym. Aber auch für eine anonyme Meldung brauchen Hinweisgebende Mut. Zudem müssen alle Meldemöglichkeiten auch bekannt und praktikabel sein. Andernfalls sehen sich Mitarbeitende vielleicht genötigt, sich an externe Meldestellen, Behörden oder gar an die Presse zu wenden. Die Prozesse müssen aufgesetzt und implementiert sein, die Führungskräfte befähigt und das Tool-Set auf seine Eignung hin überprüft, notfalls angepasst werden.
Die gesamte Organisation muss lernen, konstruktiv mit Fehlern umzugehen, die gemeldet wurden. Das gilt für Kleinigkeiten ebenso wie für strafrechtlich relevante Ereignisse. Womöglich tragen die alten Werte diesen Wandel nicht mehr mit. Vielleicht braucht es neue Werte, ein verändertes Leitbild, eine neue Vision?
Veränderungen im Unternehmen durch Whistleblowing
Für Unternehmen hat das neue Gesetz (mindestens) drei Ebenen, die der Aufmerksamkeit bedürfen: die der Technik, die der Organisation und die der Kultur. Auf technischer Ebene können Unternehmen sich beispielsweise entscheiden, ob sie das Meldesystem selbst anbieten oder ein Unternehmen damit beauftragen möchten. Die Meldemöglichkeiten müssen leicht auffindbar und für jeden verständlich sein. Die Meldungen selbst müssen in jeder denkbaren Form und Weise erfolgen können: telefonisch oder schriftlich, persönlich oder anonym, digital oder in Papierform.
Auf organisationaler Ebene wird es schon komplexer. Ist das System eingerichtet und findet eine Meldung über ein Fehlverhalten statt, müssen Strukturen greifen und Prozesse folgen. Einige sind vom Gesetzgeber vorgegeben, etwa die Beantwortung, Behandlung und das Reporting innerhalb einer bestimmten Frist. Andere ergeben sich organisationsintern und sollten vorher festgelegt und kommuniziert werden. Auch sollten Unternehmen sicherstellen, dass die verantwortlichen Personen zum Umgang befähigt sind. Festgelegt werden muss alles, was nun folgen kann:
- Wer wird mit der Prüfung des entdeckten Missstands beauftragt?
- Wie geht diese Person dann weiter vor?
- Welche Befugnisse und Möglichkeiten hat sie und welche Unterstützung erfährt sie dabei?
- Wer entscheidet über die Folgemaßnahmen?
- Was, wenn eine Führungskraft beteiligt ist oder es sich um mehrere Personen handelt?
- Was, wenn die Unternehmensleitung involviert war?
- Was passiert mit denjenigen, die sich falsch verhalten haben?
- Wie kann die gesamte Organisation davon lernen?
- Wie wird innerhalb des Unternehmens mit einem solchen Fall und den gezogenen Konsequenzen umgegangen? Sensibilisiert man dafür (also kommuniziert man beispielsweise, wie viele Mitarbeitende wegen Fehlverhaltens entlassen wurden) oder kehrt man das Problem unter den Teppich?
Regelbruch durch Kollegen: Wie Whistleblowing zum ethischen Kompass wird
Bei der Arbeit an der Unternehmenskultur mit Fokus auf die Regeltreue (Compliance) kommen Verantwortliche nicht umhin, auch die Integrität, das Werteverständnis der Organisation und ihrer Mitglieder näher zu beleuchten. Je nach Reifegrad ist gelebte Integrität eine hervorragende Basis für die Vermeidung von Compliance-Fällen. Sie fungiert als ethischer, innerer Kompass eines jeden Einzelnen und hilft so bei der Orientierung in rechtlichen Graubereichen. Denn nicht alles, was vielleicht legal ist, ist auch legitim. Und sollten tatsächlich einmal nicht alle Regeln bekannt sein, ist es für den Einzelnen einfacher, nach gemeinsam gelebten Werten zu handeln.
Führungskräfte und HR können sich an den folgenden Leitlinien orientieren, um Whistleblowing den richtigen Rahmen zu geben:
Speak up: Sensible Themen ohne Angst ansprechen können
In einer Speak-up-Kultur schaffen Unternehmen eine Atmosphäre, in der Mitarbeitende auch sensible Themen offen und ohne Angst vor Repressalien aussprechen können. Das ist im ersten Moment für die beteiligen Kolleginnen, Kollegen und Führungskräfte eine Herausforderung.
Auch für die Hinweisgebenden selbst ist es nicht automatisch leicht. Kollegin X hat private Quittungen eingereicht. Nach einer hohen Steuernachforderung aufgrund des Kurzarbeitergeldes wusste sie sich einfach nicht anders zu helfen. Ein Kunde von Verkäufer Y erwartet ein kostspieliges Geschenk, sonst geht der Auftrag an die Mitbewerbenden. Was jetzt? Für Mitarbeitende stellt sich die Frage: Was schadet dem Unternehmen (und damit auch mir) mehr? Wenn ich ein kostspieliges Geschenk kaufe, oder wenn wir den Auftrag nicht bekommen, weil wir die Bestechung ablehnen?
Eine solche Situation ist leichter zu klären, wenn man sich austauschen und gemeinsam mit der eigenen Führungskraft oder dem Compliance-Verantwortlichen zu einer guten Lösung kommen kann. Transparenz und Offenheit sind hier besonders wichtig. Auch erfordert es Mut, ein solches Thema anzusprechen. Dies ist kein einfaches Lernfeld und muss vom Unternehmen besonders unterstützt werden.
Listen-up: Zuhören schafft psychologische Sicherheit
Aktiv werden können Unternehmen nur, wenn sie informiert sind. Eine erlernte und auch gelebte Kultur des Zuhörens ist dazu wertvoll und wichtig. Fühlen sich involvierte Personen psychologisch sicher und können sie darauf vertrauen, dass ihnen aufmerksam zugehört wird, wagen sie es eher, angstfrei über Missstände zu sprechen. Das gilt für alle beteiligten Personen, egal ob Verursachende, direkt oder indirekt Betroffene oder Hinweisgebende.
Auch für die Hinweisgebenden selbst ist es nicht leicht. Ihnen haftet häufig der Vorwurf des Denunziantentums an – auch wenn sie nur versucht haben, Schaden vom Unternehmen fernzuhalten.
Implementierte und gut gepflegte Feedback-Kanäle wie etwa Umfragen, deren Resultate transparent gemacht und nachverfolgt werden oder Dialogformate, in denen ein wirklicher Dialog gelernt und gelebt wird, trainieren Führungskräfte und Mitarbeitende gleichermaßen und signalisieren Verlässlichkeit und Stabilität in der Kommunikation untereinander. Sie heben die Kommunikation auf ein selbstverständliches Level, das in den Arbeitsalltag fest integriert und keine Ausnahmesituation ist.
Ängste nehmen: Whistleblowing ist ein Vertrauensbeweis
Mitarbeitende müssen Vertrauen in die Unternehmensführung und auch zu den Kollegen haben, um sich mutig und offen äußern zu können. Hierzu ist ein Klima der Angstfreiheit nötig, das in vielen Unternehmen bisher noch fehlt. Führungskräfte haben auch hier eine Vorbildfunktion für ihre Mitarbeitenden. Whistleblowing ist immer ein Vertrauensbeweis. Besteht dieses Vertrauen, können kritische Themen angesprochen werden.
Muss die hinweisgebende Person befürchten, dass es zu einer direkten Verwarnung und schlimmen Konsequenzen kommt, wird sie die Beobachtung womöglich verschweigen. Hat das Unternehmen sich das Wohl der Mitarbeitenden, konstruktiven Austausch und Vertrauen als Werte gesetzt, liegt der Fokus womöglich eher auf Hilfe als auf Strafe. In einer von Vertrauen geprägten Umgebung hätte sich Kollege X vielleicht an die Personalabteilung gewandt, Kollege Y an seine Führungskraft. Womöglich hätten für beide Fälle gute Lösungen gefunden werden können.
Nichts totschweigen: Werte und Missstände deutlich kommunizieren
Die interne Kommunikation hat in Unternehmen einen großen Einfluss darauf, was als richtig und wichtig angesehen wird und was nicht. Besonders, wenn Haltung und Mut gefordert sind, kann die IK unterstützen. Sie kann darüber informieren, wie die Fehlerkultur im Unternehmen gelebt werden kann. Sie kann die Werte mit Leben füllen und sie kontinuierlich in die Kommunikation einfließen lassen. Sie kann die kommunikative Führung übernehmen und zeigen, dass nichts totgeschwiegen wird.
Gemeinsam mit den Compliance-Verantwortlichen kann sie etwa festlegen, wie und über welche Kanäle die Missstände regelkonform veröffentlicht werden. Sie kann Diskurse steuern, die Situationen und mögliche Reaktionen behandeln. Sie kann Fragen stellen: Wie wollen wir sein? Wie wollen wir darüber sprechen? Welche Werte verbinden uns? Welche fehlen?
Unser Tipp an alle Verantwortlichen: Starten Sie jetzt sofort damit, Ihre Kultur zu analysieren und stoßen Sie eine möglicherweise längst überfällige Überarbeitung schnell an. Nur so können Unternehmen sich gut für die kommenden Jahre aufstellen.
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