"Wann war der Moment, an dem Sie es geschafft hatten?" Jedes Mal, wenn ich diese Frage höre, bin ich verwundert. Sie kommt von sehr unterschiedlichen Menschen und lässt sich in verschiedene Richtungen deuten. Journalistinnen und Journalisten wollen wissen, wann ich mich mit meinem Schicksal der schweren Behinderung versöhnt hatte. Coaches und Trainerinnen und Trainer forschen, ab welchem Zeitpunkt ich als Führungsexperte bekannt war. Und die Teilnehmenden in Seminaren fragen, wann ich als Unternehmer finanzielle Unabhängigkeit erreicht habe.
Offenbar muss es einen Punkt im Leben geben, an dem alles leichter wird. Wo sich Probleme quasi von selbst auflösen. Diese Vorstellung von der Existenz eines solchen Moments ist in vielen Köpfen (besser Herzen) tief verankert. So wie ein Baby im Bauch der Mutter mit allem versorgt wird.
Nicht nur im Marketing beliebt: Die Hannibal-Lüge
Im Marketing wird dieser Wunsch bewusst genutzt. "Wenn du dieses Produkt kaufst, wirst du jenes erfahren und alles wird besser" - oder: "Folge diesen sieben Schritten und Leichtigkeit prägt dein ganzes Leben". Auch beim Thema Change: "Nach dieser Veränderung, wenn wir die Software eingeführt, jenes Projekt erfolgreich abgeschlossen haben, dann wird alles leichter...". Diese innere Haltung nennen wir in unserem Institut die Hannibal-Lüge.
Hannibal Barkas war ein karthagischer Feldherr und kämpfte im Zweiten Punischen Krieg (218 bis 201 vor Christus) teilweise erfolgreich gegen das Römische Reich. Legendär ist seine Alpenüberquerung (218 vor Christus) mit fast 40 Kampfelefanten. Aus damaliger Sicht ein reiner Wahnsinn. Legendär soll auch seine Art der Motivation gewesen sein. So versprach er den Soldaten für die unmenschlichen Strapazen auf der anderen Seite der Alpen den Sieg und ein Leben im Überfluss – ein Land, in dem Milch und Honig fließen.
Leeres Führungsversprechen: Nach dieser Anstrengung wird alles besser
Die Fakten: Von circa 40.000 Soldaten sollen es nur 25.000 lebend geschafft haben und nach einigen Siegen wurde Karthago Rom einverleibt. Ein weiterer Beweis, wie sinnlos Krieg schon immer war. Die Hannibal-Lüge ist weit verbreitet – das Versprechen, nach einer bestimmten Anstrengung würde alles besser werden. Warum auch immer. Viele Menschen glauben daran und sind enttäuscht, wenn sie herausfinden, dass dem nicht so ist. Sie werfen der Führung Manipulation vor. Obwohl manipulierende Menschen immer auch jemanden brauchen, der sich manipulieren lässt...
Wie können wir dieses Dilemma auflösen? Diesen gordischen Knoten durchschlagen? Indem wir anerkennen, dass das Leben aus permanenten Herausforderungen und Schwierigkeiten besteht, von der Geburt bis zum Tod. Und dass es darum geht, mentale Engpässe zu überwinden und geistig zu wachsen, indem wir lernen, mit Schwierigkeiten immer besser umzugehen, statt weniger Hürden zu erwarten.
Führung bedeutet, mit Herausforderungen umzugehen - wieder und wieder
Räumen Sie mit der Hannibal-Lüge auf und schulen Sie Ihre Fähigkeiten im Umgang mit Herausforderungen. Sagen Sie sich: Nach jeder Veränderung wird es weitere geben. Und Sie werden immer besser darin, sie zu meistern. Wer sich hier keine Illusionen macht, ist dem Wettbewerb voraus.
So lautet auch meine Antwort an Journalistinnen und Journalisten oder Seminarteilnehmende. Es gibt keinen "Tipping Point" des Erfolgs, kein "über dem Berg sein". Es gibt nur sich ständig entwickelnde mentale Fähigkeiten im Umgang mit Hindernissen.
Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis. Seine Kolumne erscheint in der Haufe-Zeitschrift "wirtschaft + weiterbildung".