Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Verdachtskündigung. Kündigungserklärungsfrist. Außerordentliche fristlose (Verdachts-) Kündigung wegen “Exhibitionismus im Dienst”. Einhaltung der Zweiwochenfrist bei Verdachtskündigung wegen strafbarer Handlung: hinreichende Verdichtung des Verdachts bei laufenden strafrechtlichen Ermittlungen, wenn Arbeitgeber bereits vor Abschluss des Strafverfahrens kündigen will: Mitteilung der Staatsanwaltschaft über beantragten Strafbefehl als (weiterer/neuer) Ansatzpunkt bei bereits vorher bestehenden hinreichenden Verdacht (auf frischer Tat ertappt)?
Orientierungssatz
1. Der dringende Verdacht der vorsätzlichen Begehung von Straftaten, hier nach § 183 StGB, während der Dienstzeit unter Nutzung der Diensträume ist als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung an sich geeignet.
2. Auch bei der Verdachtskündigung wegen strafbaren Verhaltens kann sich der Kündigungsberechtigte am Fortgang des Strafverfahrens orientieren.
3. Dann kann er jedoch nicht zu einem beliebigen willkürlich gewählten Zeitpunkt außerordentlich kündigen. Für den gewählten Zeitpunkt bedarf es eines sachlichen Grundes.
4. Wenn der Kündigungsberechtigte neue Tatsachen erfahren oder neue Beweismittel erlangt hat und nunmehr einen – neuen – ausreichenden Erkenntnisstand für eine Kündigung zu haben glaubt, kann er dies zum Anlass der Kündigung nehmen.
Normenkette
BGB § 626; BAT-O § 54; StGB § 183; StPO § 407; EGGVG § 14 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 26.02.2007; Aktenzeichen 3 Sa 378/06) |
ArbG Chemnitz (Urteil vom 03.04.2006; Aktenzeichen 4 Ca 5397/05) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 26. Februar 2007 – 3 Sa 378/06 – aufgehoben, soweit es auf die Berufung des Klägers die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung der Beklagten vom 8. Dezember 2005 festgestellt hat.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 3. April 2006 – 4 Ca 5397/05 – wird insgesamt zurückgewiesen.
Der Kläger hat auch die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten im Revisionsverfahren noch über eine von der Beklagten auf verhaltensbedingte Gründe gestützte außerordentliche Kündigung (Verdachtskündigung).
Der Kläger trat 1990 in die Dienste der beklagten Stadt. Sein Büro befand sich in der zweiten Etage des Technischen Rathauses in der A… Straße. Unweit davon liegen zwei Straßenbahn-Haltestellen.
Am 30. September 2005 wandte sich eine Bürgerin, die Zeugin K…, an eine Mitarbeiterin der Beklagten und berichtete, sie hätte mehrfach freitags nach 14:00 Uhr, ua. auch an diesem Tag gegen 14:40 Uhr, beobachtet, wie sich in einem Fenster der zweiten Etage des Technischen Rathauses eine Person männlichen Geschlechts mit einer Perücke (lange schwarze Haare) in rotem Gewande entblößt und seine Genitalien gezeigt hätte.
Auf entsprechenden Rat der Mitarbeiterin der Beklagten wandte sich die Zeugin K… an die Kriminalpolizei und erstattete Strafanzeige. Hiervon wurde der Beklagten am 12. Oktober 2005 Mitteilung gemacht.
Am Freitag, den 14. Oktober 2005, ermittelte die Kriminalpolizei den Kläger “auf frischer Tat”. Hiervon erhielt die Beklagte am 17. Oktober 2005 Kenntnis. Der Kläger wurde dazu in einem Personalgespräch am 14. November 2005 gehört, welches mit seiner sofortigen Suspendierung endete.
Am 30. November 2005 informierte die Staatsanwaltschaft Chemnitz telefonisch den Leiter des Personalamtes der Beklagten, dass gegen den Kläger ein Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt worden sei. Sodann informierte die Beklagte den Personalrat über die Absicht einer fristlosen Kündigung (Verdachtskündigung) mit Schreiben vom 2. Dezember 2005. Der Personalrat stimmte der Kündigungsabsicht am 7. Dezember 2005 zu. Hierauf kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger durch Schreiben vom 8. Dezember 2005 fristlos und etwas später auch (hilfsweise) ordentlich.
Am 20. Dezember 2005 erließ das Amtsgericht Chemnitz gegen den Kläger einen Strafbefehl wegen mehrerer exhibitionistischer Handlungen. Auf den Einspruch des Klägers, beschränkt auf die Rechtsfolgen, verurteilte das Amtsgericht Chemnitz den Kläger mit Urteil vom 6. Februar 2006 zu einer Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10,00 Euro. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.
Der Kläger hat die Unwirksamkeit der Kündigungen geltend gemacht. Er hat bestritten, regelmäßig freitags am Fenster seines Büros exhibitionistische Handlungen vorgenommen zu haben. Am 14. Oktober 2005 sei er nicht auf frischer Tat ertappt worden. Er habe sich umgezogen und sei dann eingeschlafen. Er habe niemanden belästigt. Von der Straße aus sei das Fenster seines Dienstzimmers nicht einsehbar. Die ihm zur Last gelegte Pflichtverletzung habe mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun. Es fehle auch an einer Abmahnung. Die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB sei nicht eingehalten. Ein Zuwarten bis zum Erlass des Strafbefehls sei nicht erforderlich gewesen.
Der Kläger hat beantragt,
1. es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 8. Dezember 2005, zugegangen am 9. Dezember 2005, nicht aufgelöst worden ist.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 22. Dezember 2005, zugegangen am 23. Dezember 2005, nicht aufgelöst worden ist.
3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zur Rechtskraft einer Entscheidung im Kündigungsschutzverfahren als Kontrollgänger im Tiefbauamt zu im Übrigen unveränderten Bedingungen weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, die Kündigungen seien wirksam. Das Büro des Klägers in der zweiten Etage mit zwei Fenstern liege in unmittelbarer Nähe der Straßenbahnhaltestelle und sei von dort einsehbar. Auf den Fensterbänken hätten sich viele, teils hohe Pflanzen befunden. Der Kläger habe sich wiederholt am Fenster vor den an der Haltestelle wartenden Passanten entblößt, und zwar regelmäßig freitags nach 14:00 Uhr. In der Anhörung vom 14. November 2005 sei der Kläger nicht zu glaubwürdigen Aussagen gekommen. Der dringende Tatverdacht sei entstanden nach der Mitteilung der Staatsanwaltschaft vom 30. November 2005 über den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls. Es handele sich um den Verdacht schwerwiegender Verfehlungen. Das wahrgenommene Geschehen werde mit der Behörde assoziiert. Auch sei davon auszugehen, dass der Kläger wegen der Vielzahl der Taten kein Unrechtsbewusstsein habe. Eine Negativprognose sei anzustellen. Die Rückfallgefahr bei Taten nach § 183 StGB sei sehr hoch.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung festgestellt und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht nur für die Beklagte zugelassenen Revision begehrt diese die vollständige Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet und führt zur vollständigen Abweisung der Klage.
A. Das Landesarbeitsgericht hat die ordentliche Kündigung für wirksam gehalten. Jedenfalls im Zeitpunkt der Kündigung habe der dringende Verdacht bestanden, der Kläger habe sich am Fenster des ihm zugeteilten Büroraums im Dienstgebäude des Technischen Rathauses, sichtbar für Passanten und an einer Haltestelle wartende Personen, unbekleidet zur Schau gestellt und seine Genitalien gezeigt. Die Einlassungen des Klägers dazu seien untauglich. Auch wenn hier keine direkte Konfrontation mit einem gegenüberstehenden Opfer stattgefunden habe, so sei doch entscheidungserheblich, dass der Kläger Angehöriger des öffentlichen Dienstes sei und die Tat von einem öffentlichen Gebäude ausgegangen sei. Eine schuldausschließende Krankheit liege beim Kläger nicht vor. Die Interessenabwägung müsse zu seinem Nachteil ausgehen. Ausschlaggebend sei, dass das Verhalten wichtige Interessenbereiche der Beklagten zu beeinträchtigen geeignet gewesen sei, der Kläger geringe Einsichtsfähigkeit zeige und keine günstige Zukunftsprognose gestellt werden könne. Die außerordentliche Kündigung sei indes wegen Versäumung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB unwirksam. Am 17. Oktober 2005 habe die Beklagte erfahren, dass der Kläger “auf frischer Tat ertappt” worden sei. Damit sei der Beklagten ein wesentliches Ermittlungsergebnis bekannt gewesen. Sie sei nun in der Lage gewesen, die Entscheidung über die Verdachtskündigung mit den notwendigen Abwägungen zu treffen. Danach sei nur noch die Anhörung des Klägers erforderlich gewesen. Damit habe die Beklagte aber ohne triftige Gründe noch vier Wochen gewartet.
B. Dem kann der Senat, soweit das Landesarbeitsgericht angenommen hat, die Beklagte habe die Kündigungserklärungsfrist versäumt, nicht zustimmen.
I. Die Kündigung ist nicht nach § 626 Abs. 2 BGB unwirksam. Die Beklagte hat vielmehr die Kündigungserklärungsfrist gewahrt. Die Frist begann, wie schon das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, mit der Unterrichtung der Beklagten von der Beantragung des Strafbefehls.
1. Nach § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB bzw. des kraft Vereinbarung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findenden § 54 Abs. 2 Satz 1 BAT-O kann die außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Diese Frist beginnt nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB, § 54 Abs. 2 Satz 2 BAT-O in dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt (Senat 17. März 2005 – 2 AZR 245/04 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 46 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 9).
a) § 626 Abs. 2 BGB ist ein gesetzlich bzw. tariflich (§ 54 Abs. 2 BAT-O) konkretisierter Verwirkungstatbestand (Senat 6. Juni 1972 – 2 AZR 386/71 – BAGE 24, 341; 18. November 1999 – 2 AZR 852/98 – BAGE 93, 12). Nach allgemeinen Grundsätzen ist ein Anspruch oder Recht verwirkt, wenn der Berechtigte längere Zeit untätig geblieben ist und dadurch den Eindruck erweckt hat, er wolle das Recht nicht mehr geltend machen, sein Vertragspartner sich auf den dadurch geschaffenen Vertrauenstatbestand eingestellt hat und es ihm deshalb nicht mehr zugemutet werden kann, sich auf das verspätete Begehren des Berechtigten zu berufen. Sinn der Kündigungserklärungsfrist ist es, für den betroffenen Arbeitnehmer rasch Klarheit darüber zu schaffen, ob sein Arbeitgeber einen Sachverhalt zum Anlass für eine außerordentliche Kündigung nimmt.
b) Die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB bzw. des § 54 Abs. 2 BAT-O beginnt, wenn der Kündigungsberechtigte eine zuverlässige und möglichst vollständige positive Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung ermöglichen, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist oder nicht (Senat 28. Oktober 1971 – 2 AZR 32/71 – BAGE 23, 475; 6. Juni 1972 – 2 AZR 386/71 – BAGE 24, 341; zuletzt: 5. Dezember 2002 – 2 AZR 478/01 – AP BGB § 123 Nr. 63 = EzA BGB 2002 § 123 Nr. 1). Auch grob fahrlässige Unkenntnis ist insoweit ohne Bedeutung (Senat 28. Oktober 1971 – 2 AZR 32/71 – aaO; 29. Juli 1993 – 2 AZR 90/93 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 31 = EzA BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 4; 15. November 1995 – 2 AZR 974/94 – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 73 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 89; 31. März 1993 – 2 AZR 492/92 – BAGE 73, 42; 17. März 2005 – 2 AZR 245/04 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 46 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 9; KR-Fischermeier 8. Aufl. § 626 BGB Rn. 319 mwN). Zu den maßgeblichen Tatsachen gehören sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände. Ohne die umfassende Kenntnis des Kündigungsberechtigten vom Kündigungssachverhalt kann sein Kündigungsrecht nicht verwirken (Senat 5. Dezember 2002 – 2 AZR 478/01 – aaO). Ein Kündigungsberechtigter darf den Aus- bzw. Fortgang eines Strafermittlungs- bzw. eines Strafverfahrens abwarten (BAG 12. Mai 1955 – 2 AZR 77/53 – BAGE 2, 1; 11. März 1976 – 2 AZR 29/75 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 9 = EzA BGB § 626 nF Nr. 46; 12. Dezember 1984 – 7 AZR 575/83 – BAGE 47, 307; 29. Juli 1993 – 2 AZR 90/93 – aaO) und seinen Kündigungsentschluss davon abhängig machen.
2. Ist die Frist bereits angelaufen, so kann sie gleichwohl gehemmt werden. Während den Arbeitgeber vor Fristbeginn grundsätzlich keine Obliegenheiten zur Aufklärung treffen, muss er nach Kenntnis vom Kündigungssachverhalt mit der gebotenen Eile vorgehen: Er weiß nunmehr, dass – aus seiner Sicht – ein Kündigungsgrund vorliegt und dass er kündigen kann. Innerhalb der Frist muss er entscheiden, ob er kündigen will und die Kündigung gegenüber dem Arbeitnehmer erklären. Ab Kenntnis vom Kündigungsgrund ist der Arbeitgeber “Herr der Lage”. Deshalb ist es angemessen, dass die Frist nunmehr nur dann gehemmt ist, wenn der Arbeitgeber ohne Fahrlässigkeit an ihrer Einhaltung gehindert ist.
3. Geht es um ein strafbares Verhalten des Arbeitnehmers, kann sich der Kündigungsberechtigte am Fortgang des Strafverfahrens orientieren. Dann kann er jedoch nicht zu einem beliebigen willkürlich gewählten Zeitpunkt außerordentlich kündigen (Senat 29. Juli 1993 – 2 AZR 90/93 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 31 = EzA BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 4; 14. Februar 1996 – 2 AZR 274/95 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 26 = EzA BGB § 626 nF Nr. 160). Für den gewählten Zeitpunkt bedarf es eines sachlichen Grundes. Wenn etwa der Kündigungsberechtigte neue Tatsachen erfahren oder neue Beweismittel erlangt hat und nunmehr einen – neuen – ausreichenden Erkenntnisstand für eine Kündigung zu haben glaubt (Senat 17. März 2005 – 2 AZR 245/04 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 46 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 9), kann er dies zum Anlass der Kündigung nehmen.
4. Diesen auch für die Verdachtskündigung geltenden Grundsätzen wird die Würdigung des Landesarbeitsgerichts nicht durchweg gerecht.
a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Arbeitgeber habe der Sache nach nur zwei Möglichkeiten, dem sich in der Zeit entwickelnden Zuwachs von Erkenntnissen in Fällen der vorliegenden Art durch eine außerordentliche Kündigung zu begegnen. Dabei setzt das Landesarbeitsgericht offenbar voraus, es gebe stets zwei objektiv genau bestimmbare, gewissermaßen auf einer Zeitachse abbildbare Zeitpunkte, zu denen die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen beginne, und zwar einen Zeitpunkt für die Verdachtskündigung und einen weiteren für die Tatkündigung. Werde, so nimmt das Landesarbeitsgericht an, der erste Zeitpunkt versäumt, so könne allein noch eine Tatkündigung nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens erfolgen.
b) Eine derart eingeengte Sicht wird den tatsächlichen Gegebenheiten jedoch nicht gerecht. Sie ist auch bisher vom Senat nicht vertreten worden.
aa) Die Verdachtskündigung ist dadurch gekennzeichnet, dass der eigentliche verdachtauslösende Anlass der Kündigung, also das wahre Geschehen, für den Kündigenden im Dunkeln liegt und oft vom Vertragspartner bewusst verborgen wird. Die Aufhellung des anfänglich vagen Verdachts bis zur endgültigen Klarheit geschieht aber nicht notwendig als ständig voranschreitender Erkenntnis- und Gewissheitszuwachs, sondern oftmals diskontinuierlich, von Ermittlungsstillständen, Rückschlägen, Irrtümern über Einzeltatsachen, Fehldeutungen einzelner Teilerkenntnisse und ähnlichen Misslichkeiten verzögert, bis, im günstigen Falle, schließlich “alles zusammenpasst” und vollständige Aufklärung erreicht ist (die Ereignisse sind “im Fluss”, vgl. Hahn Die Verdachtskündigung unter Berücksichtigung einer gesetzlichen Regelung S. 69 ff.; KRFischermeier 8. Aufl. § 626 BGB Rn. 320). Dementsprechend kann es im Laufe des Aufklärungszeitraums nicht nur einen, sondern mehrere Zeitpunkte geben, in denen der Verdacht “dringend” genug ist, um eine Verdachtskündigung darauf zu stützen (vgl. HaKo-Gieseler 3. Aufl. § 626 BGB Rn. 106). Deshalb hat der Senat dem Kündigungsberechtigten einen gewissen Beurteilungsspielraum zugestanden. Auch in dem der Entscheidung vom 17. März 2005 (– 2 AZR 245/04 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 46 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 9) zugrunde liegenden Fall hätte der Arbeitgeber objektiv zu einem früheren Zeitpunkt kündigen können. Er hatte aber nach Auffassung des Senats einen sachlichen Grund zuzuwarten und handelte daher nicht willkürlich. Es kommt also nicht auf als absolut gedachte Zeitpunkte an, sondern darauf, ob der Kündigungsberechtigte ohne sachlichen Grund untätig blieb und der Gekündigte aus der Untätigkeit schließen konnte, der Kündigungsberechtigte werde von seinem Recht keinen Gebrauch machen (vgl. Senat 17. März 2005 – 2 AZR 245/04 – aaO; 18. November 1999 – 2 AZR 852/98 – BAGE 93, 12; vgl. APS/Dörner 3. Aufl. § 626 BGB Rn. 365).
bb) Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 17. März 2005 (– 2 AZR 245/04 – aaO) darauf hingewiesen, dass der Arbeitgeber den Aus- oder Fortgang des Strafverfahrens abwarten und zu einem nicht willkürlich gewählten späteren Zeitpunkt kündigen kann (zur Anschließung des Kündigungsentschlusses an das Strafverfahren: Hahn aaO; Finken Die Ausschlussfrist § 626 Abs. 2 BGB für die Erklärung der außerordentlichen Kündigung S. 67 ff.; Bader/Bram/Dörner/Kriebel-Bader KSchG Stand April 2008 § 626 BGB Rn. 77). Die Möglichkeit, nach Kenntnis neuer Tatsachen oder Beweismittel vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens eine Tatkündigung auszusprechen, ist vom Senat dabei nur als Beispiel für ein nicht willkürliches, sondern sachlich begründetes Vorgehen benannt worden. Der Senat hat nicht ausgeschlossen, dass der Arbeitgeber sich auch für die Frage, ob er eine Verdachtskündigung ausspricht, am Fortgang des Ermittlungsverfahrens orientiert (vgl. Ebeling Die Kündigung wegen Verdachts S. 196 ff.). Bei einer Verdachtskündigung kann jedem Ereignis eine die Vertragsstörung intensivierende Wirkung zukommen, dass die Gewissheit, der Vertragspartner könne die Pflichtverletzung begangen haben, erhöht (vgl. HaKo-Gieseler § 626 BGB Rn. 106; Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 763). Eine solche den Verdacht intensivierende Wirkung kann auch die Erhebung der öffentlichen Klage haben (AnwK-ArbR/Bröhl Bd. 1 § 626 BGB Rn. 102; HaKo-Gieseler § 626 BGB Rn. 106; Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis Rn. 763).
cc) Hinzu kommt, dass das Gesetz in § 14 EGGVG iVm. Nr. 16 MiStra für den öffentlichen Dienst eine Verpflichtung der zuständigen Strafverfolgungsorgane zur Unterrichtung des Arbeitgebers über den Fortgang von Strafverfahren wegen dienstbezogener Vergehen vorsieht, und zwar zu dem Zweck, die Entscheidung auch über den Ausspruch von Kündigungen zu befördern. Die Unterrichtung des Arbeitgebers von der Erhebung der öffentlichen Klage (MiStra Nr. 16 Abs. 1 Nr. 2) ist ausdrücklich vorgesehen. Da nach § 407 Abs. 1 Satz 4 StPO die Beantragung eines Strafbefehls zugleich die Erhebung der öffentlichen Klage bedeutet, gilt dies auch für die Beantragung des Strafbefehls. Diese Rechtslage schließt es aus, dem öffentlichen Arbeitgeber zu verwehren, sich auch für die Prüfung der Frage, ob und wann er eine Verdachtskündigung ausspricht, auf den Fortgang des Ermittlungsverfahrens zu stützen. Es ist keine unsachliche Erwägung, wenn der Arbeitgeber – wie hier die Beklagte – für sich entscheidet, erst eine solche Verdachtsdichte zum Anlass für eine Kündigung als ausreichend anzusehen, die auch zur Beantragung eines Strafbefehls ausreicht. Dem Arbeitnehmer entsteht dadurch kein Nachteil. Der Arbeitgeber seinerseits entgeht mit dieser, an die rechtsstaatlichen Garantien des Strafverfahrensrechts anknüpfenden Verfahrensweise dem Vorwurf einer gewissermaßen privatjustiziellen arbeitsrechtlichen Vorverurteilung. Trifft der Vorwurf letztlich zu, so hat der Arbeitnehmer immerhin den Vorteil, dass sein Arbeitsverhältnis länger Bestand hatte, als es nach objektiver Tatlage gerechtfertigt gewesen wäre. Dass die Beklagte sich hier an diesen rechtsstaatlich einwandfreien Maßstäben orientiert hat, zeigt ihre Erklärung in der Anhörung des Klägers vom 14. November 2005, die an diesem Tage vorgenommene Suspendierung bedeute “keine Vorverurteilung”. Die Kündigungserklärungsfrist ist damit gewahrt.
dd) Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Erhebung der öffentlichen Klage keinen dringenden Tatverdacht voraussetzt. Das ist zwar an sich richtig. In diesem Sinne hat der Senat auch ausgeführt, dass die Erhebung der öffentlichen Klage für sich genommen nicht den dringenden Verdacht im kündigungsrechtlichen Sinne begründen kann (29. November 2007 – 2 AZR 724/06 – EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 5). Das ändert aber nichts daran, dass die Erhebung der öffentlichen Klage einen Einschnitt bedeutet, der die anderweitig schon genährte Überzeugung des Arbeitgebers deutlich verstärkt. Während die Einleitung des Ermittlungsverfahrens lediglich einen Anfangsverdacht erfordert, ist die Erhebung der öffentlichen Klage an das Bestehen eines “hinreichenden” Verdachts gebunden. Der Verdacht erhält also eine entscheidend andere Qualität, weshalb es gerechtfertigt ist, die Erhebung der öffentlichen Klage als einen Umstand anzusehen, bei dessen Eintritt der Arbeitgeber einen sachlichen Grund hat, nunmehr das Kündigungsverfahren einzuleiten (ebenso: AnwK-ArbR/Bröhl Bd. 1 § 626 BGB Rn. 102; HaKo-Gieseler § 626 BGB Rn. 106; Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis Rn. 763).
ee) Der Kläger hat selbst nicht geltend gemacht, er habe aus dem Zuwarten der Beklagten geschlossen, sie werde die Kündigungsvorwürfe nicht zum Anlass einer außerordentlichen Kündigung nehmen. Die Suspendierung des Klägers am 14. November 2005 zeigt im Übrigen das Gegenteil. Aus der Versicherung der Beklagten, in der Suspendierung liege keine Vorverurteilung konnte der Kläger entnehmen, dass die Beklagte um ein rechtsstaatlich einwandfreies, deshalb aber doch keineswegs in der Sache permissives Verfahren bemüht war.
II. Für die Kündigung bestand ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB. Das kann der Senat selbst entscheiden, da alle tatsächlichen Feststellungen getroffen sind und die Sache entscheidungsreif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Das Landesarbeitsgericht hat im Rahmen seiner Prüfung der ordentlichen Kündigung in jeder Hinsicht zutreffende Erwägungen angestellt, die auch für die außerordentliche Kündigung nicht anders ausfallen können.
1. Dass der dringende Verdacht besteht, der Kläger habe die ihm im rechtskräftigen Strafurteil vorgeworfenen strafbaren Handlungen begangen, hat das Landesarbeitsgericht festgestellt.
2. Die vorsätzliche Begehung von Straftaten, hier nach § 183 StGB, während der Dienstzeit unter Nutzung der Diensträume ist, wie schon das Arbeitsgericht angenommen hat, als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung an sich geeignet. Dass, wie ebenfalls schon vom Arbeitsgericht zutreffend erkannt wurde, das Beendigungsinteresse der Beklagten das Bestandsinteresse des Klägers trotz der mehrjährigen Beschäftigung überwog, ist ebenfalls unabweisbar. Die Beklagte muss berechtigten Erwartungen ihrer Bürger, sie sorge für die Einhaltung der Gesetze in der Öffentlichkeit und “kehre dabei auch vor der eigenen Tür”, Rechnung tragen dürfen. Schuldausschließende Umstände hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt.
III. Andere Unwirksamkeitsgründe sind nicht ersichtlich.
Unterschriften
Rost, Eylert, Schmitz-Scholemann, Krichel, F. Löllgen
Fundstellen
Haufe-Index 2038296 |
BB 2009, 278 |
BB 2009, 672 |
NWB 2008, 4860 |
ZTR 2009, 37 |
AP, 0 |
AuA 2009, 488 |
EzA-SD 2008, 5 |
EzA |
NZA-RR 2008, 630 |
PersV 2009, 234 |
NJW-Spezial 2008, 626 |