Entscheidungsstichwort (Thema)
Zusatzurlaub für Wechselschichtarbeit im öffentlichen Dienst. Tarifablösung. Vertrauensschutz
Orientierungssatz
1. Die Tarifvertragsparteien können einen von ihnen selbst geschlossenen Tarifvertrag grundsätzlich jederzeit abändern, einschränken oder aufheben. Die zeitlich spätere Regelung löst die frühere ab. Eine Tarifnorm steht unter dem Vorbehalt, durch eine tarifliche Folgeregelung verschlechtert oder aufgehoben zu werden.
2. Wirkt die ablösende Tarifnorm zurück, ist die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien durch den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes begrenzt. Der Berechtigte kann grundsätzlich darauf vertrauen, dass ein bereits entstandener Anspruch erhalten bleibt. Ob und wann die Tarifunterworfenen mit einem Eingriff in bereits entstandene tarifliche Rechte rechnen müssen, ist eine Frage des Einzelfalls.
Normenkette
GG Art. 20, 9 Abs. 3; BGB §§ 249, 280, 286-287
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 21.09.2006; Aktenzeichen 18 Sa 470/06) |
ArbG Berlin (Urteil vom 14.02.2006; Aktenzeichen 96 Ca 26173/05) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 21. September 2006 – 18 Sa 470/06 – aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Ersatz von Zusatzurlaub für im Jahr 2004 geleistete Wechselschichtarbeit.
Die Beklagte beschäftigt den Kläger seit 1991 als Funktionsmaschinisten in Wechselschicht. Der Kläger ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Die beklagte Anstalt des öffentlichen Rechts betreibt Wasserwerke. Sie gehört dem Kommunalen Arbeitgeberverband Berlin e. V. (KAV Berlin) an, der Mitglied der Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände (VKA) ist. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) Anwendung. §§ 41a und 42 BMT-G II lauten auszugsweise wie folgt:
Ҥ 41a
Zusatzurlaub für Wechselschichtarbeit, Schichtarbeit und Nachtarbeit
(1) Der ständige Wechselschichtarbeiter sowie der ständige Schichtarbeiter, der nur deshalb nicht ständiger Wechselschichtarbeiter ist, weil der Schichtplan eine Unterbrechung der Arbeit am Wochenende von höchstens 48 Stunden vorsieht, erhalten Zusatzurlaub.
…
(5) Für den Arbeiter, der spätestens mit Ablauf des Urlaubsjahres, in dem der Anspruch nach Absatz 8 Satz 2 entsteht, das 50. Lebensjahr vollendet hat, erhöht sich der Zusatzurlaub um einen Arbeitstag.
…
(8) Der Zusatzurlaub bemißt sich nach der bei demselben Arbeitgeber im vorangegangenen Kalenderjahr erbrachten Arbeitsleistung. Der Anspruch auf den Zusatzurlaub entsteht mit Beginn des auf die Arbeitsleistung folgenden Urlaubsjahres.
…
§ 42
Zusatzurlaub
…
(6) Zusatzurlaub nach diesem Tarifvertrag, nach bezirklichen Regelungen und nach sonstigen Bestimmungen wird nur bis zu insgesamt fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr gewährt. Erholungsurlaub und Zusatzurlaub (Gesamturlaub) dürfen im Urlaubsjahr zusammen 34 Arbeitstage nicht überschreiten.
Unterabsatz 1 ist auf Zusatzurlaub nach dem SGB IX oder nach Vorschriften für politisch Verfolgte, Unterabsatz 1 Satz 2 auf Zusatzurlaub nach § 41a nicht anzuwenden.
…”
Der Kläger leistete im Jahr 2004 Wechselschichtarbeit. Auf der Grundlage von § 41a BMT-G II hätte er drei Tage Zusatzurlaub beanspruchen können.
Am 5. Oktober 2000 schlossen die VKA, die ÖTV und die DAG den Tarifvertrag Versorgungsbetriebe (TV-V). Für den Zusatzurlaub bei Wechselschichtarbeit ist in § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V geregelt, dass jeder Arbeitnehmer bei Wechselschichtarbeit für je zwei zusammenhängende Monate einen zusätzlichen Urlaubstag erhält. Der TV-V trat am 1. April 2002 in Kraft. Er galt für die Wasserwerke der Beklagten zunächst nicht, weil der branchenmäßige Geltungsbereich des TV-V solche Mischbetriebe nicht erfasste.
Im April und Mai 2004 fanden erste Treffen einer Sondierungskommission statt, die über den Abschluss eines Tarifvertrags zur Anwendung des TV-V auf die Betriebe der Beklagten beriet. Mit Schreiben vom 28. Juli 2004 forderte der KAV Berlin die Gewerkschaft ver.di auf, die Tarifverhandlungen für die Berliner Wasserbetriebe am 29. Juli 2004 aufzunehmen. Der Kläger war Mitglied der Tarifkommission. Am 11. November 2004 fand die jährliche Personalversammlung für den Bereich der Wasserwerke der Beklagten statt. Am 5. April 2005 kam es zu einer sog. ersten Clearingsitzung der Tarifparteien zur Einführung des TV-V. In dieser Sitzung wurde das Problem des Zusammentreffens von Zusatzurlaubsansprüchen aus dem BMT-G II und dem TV-V angesprochen. Eine Einigung wurde nicht erzielt.
Am 14. April 2005 schlossen der KAV Berlin und der Landesbezirk Berlin- Brandenburg der Gewerkschaft ver.di einen “Landesbezirklichen Tarifvertrag zur Anwendung des Tarifvertrages Versorgungsbetriebe (TV-V) für die Arbeitnehmer der Berliner Wasserbetriebe AöR (TV-AnwTV-V/BWB)”. Er gilt für die Arbeitnehmer der Beklagten und bezieht die Beklagte in den Geltungsbereich des TV-V ein (§ 1 und § 2 Abs. 1 TV-AnwTV-V/BWB). Der Anwendungstarifvertrag trat am 1. Januar 2005 in Kraft und ersetzte in seinem Geltungsbereich ua. den BMT-G II (§ 6 Abs. 1 und 3 TVAnwTV- V/BWB). Mit Aushang von Juni 2005 teilte die Beklagte ihren Arbeitnehmern mit, dass der Anspruch nach § 41a BMT-G II ab 1. Januar 2005 nicht mehr bestehe. Auf der Grundlage von § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V erhielt der Kläger im Jahr 2005 fünf Tage Zusatzurlaub für seine in diesem Jahr geleistete Wechselschichtarbeit. Unter dem 8. Dezember 2005 verlangte er nach § 41a BMT-G II weiteren Zusatzurlaub für die Zeit vom 26. bis 28. Dezember 2005. Diesen Anspruch erfüllte die Beklagte nicht.
In seiner der Beklagten am 16. Dezember 2005 zugestellten Klage vertritt der Kläger die Auffassung, sein Anspruch nach § 41a BMT-G II sei am 1. Januar 2005 entstanden und durch das rückwirkende Inkrafttreten des Anwendungstarifvertrags nicht erloschen.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihm auf Grund im Jahre 2004 geleisteter Wechselschichtarbeit Zusatzurlaub von drei Arbeitstagen zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie meint, dem Kläger stehe kein Zusatzurlaub zu, weil § 41a BMT-G II mit Wirkung vom 1. Januar 2005 abgelöst worden sei. Der Kläger genieße auch keinen Vertrauensschutz. Die Arbeitnehmer der Beklagten hätten zu keiner Zeit annehmen dürfen, dass sie im Urlaubsjahr 2005 Urlaubstage sowohl nach dem BMT-G II als auch nach dem TV-V erlangen könnten. Als Mitglied der Tarifkommission sei dem Kläger die bevorstehende Ersetzung des BMT-G II durch den TV-V bekannt gewesen. Die mit der Einführung des TV-V verbundenen Änderungen der Zusatzurlaubsansprüche seien im Rahmen einer Gegenüberstellung von BMT-G II und TV-V bereits Thema eines Seminars für Vertrauensleute und Personalratsmitglieder am 3. und 4. Februar 2004 gewesen. Auch in der Personalversammlung der Betriebe der Beklagten vom 11. November 2004 sei allen Arbeitnehmern mitgeteilt worden, die Tarifvertragsparteien verhandelten konkret über die Einführung des TV-V. Es bestehe eine große Wahrscheinlichkeit, dass der TV-V bald für die Beklagte gelten werde.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat die Entscheidung des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision. Er begehrt die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Auf Grund der bislang getroffenen Feststellungen kann nicht abschließend darüber entschieden werden, ob dem Kläger unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes Anspruch auf Ersatz von drei Tagen Zusatzurlaub zusteht. Das Landesarbeitsgericht wird aufzuklären haben, ob Gegenstand der Personalversammlung vom 11. November 2004 auch der beabsichtigte Abschluss eines Tarifvertrags zur Anwendung des TV-V war.
I. Das Berufungsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass der Anspruch des Klägers auf Gewährung von drei Tagen Zusatzurlaub gemäß § 41a BMT-G II am 1. Januar 2005 entstanden war. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts leistete der Kläger im Jahr 2004 Wechselschichtarbeit in einem Umfang, der auf der Grundlage von § 41a BMT-G II einen Anspruch auf drei Tage Zusatzurlaub begründete. Nach § 41a Abs. 8 Satz 2 BMT-G II entsteht der Anspruch auf Zusatzurlaub mit Beginn des auf die Arbeitsleistung folgenden Urlaubsjahres und wird zugleich fällig, § 271 Abs. 1 BGB (vgl. Senat 14. Dezember 2004 – 9 AZR 33/04 – Rn. 26, EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 38). Auch die weiteren Voraussetzungen der Anspruchsentstehung waren erfüllt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien bestand am 1. Januar 2005 und fiel zu diesem Zeitpunkt auf Grund beiderseitiger Organisationszugehörigkeit in den Geltungsbereich des BMT-G II. Allerdings kommt hier nur ein Ersatzurlaubsanspruch des Klägers gemäß § 280 Abs. 1, § 286 Abs. 1, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB in Betracht, weil das Urlaubsjahr 2005 bereits beendet ist.
II. § 41a BMT-G II ist auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nach dem TVAnwTV- V/BWB vom 14. April 2005 jedoch nicht mehr anzuwenden. Der BMT-G II wurde durch diesen Anwendungstarifvertrag abgelöst. Der TV-AnwTV-V/BWB trat mit Wirkung vom 1. Januar 2005 in Kraft und ersetzte in seinem Geltungsbereich den BMTG II (§ 1, § 2 Abs. 1, § 6 Abs. 1 und 3 TV-AnwTV-V/BWB). Damit setzte der Anwendungstarifvertrag § 41a BMT-G II rückwirkend zum 1. Januar 2005 außer Kraft und zugleich § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V in Kraft. Tarifpartner des TV-AnwTV-V/BWB waren die Gewerkschaft ver.di und der der VKA angehörende KAV Berlin, also dieselben Tarifvertragsparteien bzw. ihre Rechtsnachfolger, die den BMT-G II geschlossen hatten.
1. Im Verhältnis zweier zeitlich aufeinanderfolgender Normen derselben Normgeber gilt, soweit das beabsichtigt ist, das Ablösungsprinzip. Die Tarifvertragsparteien können einen von ihnen selbst früher geschlossenen Tarifvertrag grundsätzlich jederzeit abändern, einschränken oder aufheben (sog. Zeitkollisionsregel). Die spätere Regelung löst die frühere ab (für die st. Rspr. BAG 6. Juni 2007 – 4 AZR 382/06 – Rn. 18; 11. Oktober 2006 – 4 AZR 486/05 – Rn. 26, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 24 = EzA TVG § 1 Rückwirkung Nr. 9; Senat 14. Dezember 2004 – 9 AZR 33/04 – Rn. 18, EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 38; BAG 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – Rn. 35, BAGE 108, 176). Eine solche Ablösung können die Tarifvertragsparteien – wie hier in § 6 Abs. 1 und 3 TV-AnwTV-V/BWB geschehen – auch ausdrücklich normieren.
2. Der TV-AnwTV-V/BWB ist nicht deshalb unwirksam, weil die Tarifpartner sein Inkrafttreten rückwirkend zum 1. Januar 2005 vereinbarten und zum selben Zeitpunkt den BMT-G II außer Kraft setzten. Dadurch entfiel der für die Wechselschichtarbeit im Jahr 2004 erworbene Zusatzurlaubsanspruch ersatzlos.
a) Aus dem Ablösungsprinzip, nach dem die jüngere tarifliche Regelung der älteren vorgeht, ergibt sich, dass eine Tarifnorm immer unter dem Vorbehalt steht, durch eine tarifliche Folgeregelung verschlechtert oder aufgehoben zu werden. Das gilt grundsätzlich sogar für bereits entstandene und fällig gewordene, noch nicht abgewickelte Ansprüche iS. sog. wohlerworbener Rechte (vgl. BAG 6. Juni 2007 – 4 AZR 382/06 – Rn. 20; 11. Oktober 2006 – 4 AZR 486/05 – Rn. 26, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 24 = EzA TVG § 1 Rückwirkung Nr. 9; 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – Rn. 36, BAGE 108, 176).
b) § 6 Abs. 1 und 3 TV-AnwTV-V/BWB kommt Rückwirkung zu.
aa) Echte Rückwirkung oder Rückbewirkung von Rechtsfolgen ist anzunehmen, wenn eine Rechtsnorm nachträglich ändernd in abgeschlossene, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift. Unechte Rückwirkung tritt demgegenüber ein, wenn der Normgeber an Rechtsetzungen und Lebenssachverhalte anknüpft, die in der Vergangenheit begründet wurden, auf Dauer angelegt waren und noch nicht abgeschlossen sind (vgl. nur BAG 6. Juni 2007 – 4 AZR 382/06 – Rn. 21 mwN). Diese Abgrenzung zeigt, dass echte Rückwirkung nur dann vorliegt, wenn im Zeitpunkt der Tarifänderung alle Tatbestandsvoraussetzungen für die endgültige Entstehung des tariflichen Anspruchs erfüllt waren. Für die Frage, ob ein Tarifvertrag rückwirkend und abändernd in einen tariflichen Anspruch eingreift, ist auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung abzustellen (BAG 6. Juni 2007 – 4 AZR 382/06 – Rn. 25).
bb) Hier ist von echter Rückwirkung auszugehen.
(1) Der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub aus § 41a BMT-G II war am 1. Januar 2005 entstanden. Der TV-AnwTV-V/BWB vom 14. April 2005 trat mit Wirkung vom 1. Januar 2005 in Kraft (§ 6 Abs. 1 TV-AnwTV-V/BWB). Das Inkrafttreten bezeichnet den Zeitpunkt, ab dem eine Norm Wirkung entfalten soll (BAG 6. Juni 2007 – 4 AZR 382/06 – Rn. 23). Zugleich ersetzten die Tarifparteien den BMT-G II ausdrücklich durch den TV-AnwTV-V/BWB (§ 6 Abs. 3 TV-AnwTV-V/BWB). Indem der TV-AnwTV-V/BWB in Kraft und der BMT-G II außer Kraft gesetzt wurde, wurde dem Kläger der zunächst wegen seiner Wechselschichtarbeit im Jahr 2004 entstandene Anspruch entzogen. § 41a BMT-G II bestand als Anspruchsgrundlage nicht mehr. Dem Kläger ist daher nicht darin zuzustimmen, dass der Ablösung des § 41a BMT-G II durch rückwirkende Inkraftsetzung des TV-AnwTV-V/BWB die unterschiedlichen Bemessungszeiträume des Jahres 2004 für den Anspruch aus § 41a BMT-G II und der Zeit nach dem Ende des Jahres 2004 für den Anspruch aus § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V entgegenstehen.
(2) Die Reichweite der Rückwirkung des TV-AnwTV-V/BWB darf nicht durch Auslegung beschränkt werden. Der Anwendungstarifvertrag enthält keine Übergangsbestimmung für die bisherige Regelung des Zusatzurlaubs für Wechselschichtarbeit. Das Problem des Zusammentreffens von Zusatzurlaubsansprüchen aus dem BMT-G II und dem TV-V wurde in der sog. ersten Clearingsitzung zur Einführung des TV-V am 5. April 2005 erörtert, aber nicht gelöst. Der TV-AnwTV-V/BWB wurde nur neun Tage später – am 14. April 2005 – geschlossen. Er enthält demnach eine bewusste Regelungslücke. In einem solchen Fall darf die Rechtsprechung die tarifliche Lücke nicht im Wege der Auslegung schließen, weil Art. 9 Abs. 3 GG die Gestaltung von Tarifverträgen allein den Tarifvertragsparteien zuweist (st. Rspr. vgl. BAG 20. März 2002 – 4 AZR 90/01 – Rn. 52, BAGE 101, 1).
III. Ob dem Kläger gegenüber dieser Rückwirkung Vertrauensschutz zukommt, kann der Senat auf der Basis der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht selbst entscheiden.
1. Soweit Änderungen von Tarifnormen Sachverhalte berühren, die in der Vergangenheit liegen, haben die Tarifvertragsparteien die Grenzen der Rückwirkung zu wahren.
a) Die Gestaltungsfreiheit der Tarifpartner ist durch den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Rückwirkung von Gesetzen aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitet (zB BVerfG 19. Dezember 1961 – 2 BvL 6/59 – Rn. 48 ff., BVerfGE 13, 261; BAG 6. Juni 2007 – 4 AZR 382/06 – Rn. 20; 11. Oktober 2006 – 4 AZR 486/05 – Rn. 26, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 24 = EzA TVG § 1 Rückwirkung Nr. 9; 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – Rn. 36, BAGE 108, 176). Ist der Anspruch – wie hier – bereits entstanden, hat der Arbeitnehmer nicht nur eine Anwartschaft, sondern ein Vollrecht erworben. Der Berechtigte kann grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Anspruch erhalten bleibt. Das Vertrauen der Normunterworfenen ist aber nicht schutzwürdig, wenn sie mit einer Änderung rechnen müssen (BAG 11. Oktober 2006 – 4 AZR 486/05 – Rn. 26 f., aaO; 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – Rn. 38, aaO).
b) Ob und wann die Tarifunterworfenen mit einer rückwirkenden Regelung rechnen müssen, ist eine Frage des Einzelfalls (BAG 11. Oktober 2006 – 4 AZR 486/05 – Rn. 26, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 24 = EzA TVG § 1 Rückwirkung Nr. 9; 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – Rn. 36, BAGE 108, 176). In der Regel brauchen sich Arbeitnehmer nicht darauf einzustellen, dass in entstandene Ansprüche eingegriffen wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn bereits vor der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Tarifvertragsparteien den Anspruch zu Ungunsten des Arbeitnehmers verschlechternd ändern oder gänzlich aufheben würden. Dabei setzt der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht voraus, dass der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist die Kenntnis der betroffenen Kreise (BAG 11. Oktober 2006 – 4 AZR 486/05 – Rn. 27 f., aaO; 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – Rn. 40, aaO).
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen steht nach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht fest, ob der Kläger unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes Anspruch auf Ersatzurlaub gemäß § 280 Abs. 1, § 286 Abs. 1, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB iVm. dem für die Betriebe der Beklagten aufgehobenen § 41a BMT-G II hat. Im Fall des Vertrauensschutzes setzte der Kläger die Beklagte mit der Geltendmachung seines Anspruchs noch im Dezember 2005 und der ebenfalls in diesem Monat erfolgten Klageerhebung nach § 286 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB in Verzug.
a) Schützenswertem Vertrauen des Klägers in den Fortbestand seines Anspruchs steht nicht schon § 42 Abs. 6 Unterabs. 1 BMT-G II entgegen. Daraus folgt nicht, dass der Kläger damit rechnen musste, seine Zusatzurlaubsansprüche nach § 41a BMT-G II könnten durch eine tarifliche Neuregelung verdrängt werden.
aa) Nach § 42 Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 2 BMT-G II dürfen Erholungs- und Zusatzurlaub im Urlaubsjahr 34 Arbeitstage nicht überschreiten. Dazu käme es jedoch, weil der Kläger im Jahr 2005 bereits fünf Tage Zusatzurlaub gemäß § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V erhielt. Nach § 42 Abs. 6 Unterabs. 2 2. Halbs. BMT-G II ist § 42 Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 2 BMT-G II auf Zusatzurlaub nach § 41a BMT-G II allerdings nicht anzuwenden.
bb) Soweit § 42 Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 1 BMT-G II vorsieht, dass Zusatzurlaub nach dem BMT-G II, nach bezirklichen Regelungen und nach sonstigen Bestimmungen nur bis zu insgesamt fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr gewährt wird, hindern Wortlaut, Zweck und Zusammenhang der Tarifnorm einen Vertrauensverlust des Klägers. Zwar erhielt der Kläger im Jahr 2005 bereits fünf Tage Zusatzurlaub nach § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V. Das schließt aber nicht das Vertrauen aus, drei Tage Zusatzurlaub nach § 41a BMT-G II beanspruchen zu können.
(1) Schon der Wortlaut des § 42 Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 1 BMT-G II, der eine Häufung von Ansprüchen “nach diesem Tarifvertrag” und anderen Zusatzurlaubsansprüchen über fünf Urlaubstage hinaus “im Urlaubsjahr” ausschließt, macht deutlich, dass die Bestimmung den Fall der Tarifablösung nicht sieht und nicht regelt. Sie setzt die Fortdauer der Ansprüche aus dem BMT-G II voraus und bezieht sich systematisch auf § 41a BMT-G II.
(2) Zudem sind die in § 41a BMT-G II und § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V geregelten Zusatzurlaubsansprüche nicht miteinander vergleichbar.
(a) § 41a BMT-G II soll die Erschwernisse ausgleichen, die der Arbeitnehmer durch die ungünstige Lage der Arbeitszeit hat. Darüber hinaus soll der Anspruch Betriebstreue fördern. Der Zusatzurlaub bemisst sich gemäß § 41a Abs. 8 Satz 1 BMT-G II nach der “bei demselben Arbeitgeber im vorangegangenen Kalenderjahr erbrachten Arbeitsleistung”. In § 41a Abs. 5 BMT-G II findet sich eine auf das Folgejahr bezogene Altersschutzkomponente (vgl. zum Tarifzweck Senat 14. Dezember 2004 – 9 AZR 33/04 – Rn. 27, EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 38). § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V gleicht im Unterschied hierzu nur die Erschwernisse der Wechselschichtarbeit aus und enthält weder eine Betriebstreue- noch eine Altersschutzkomponente.
(b) An dem Umstand, dass der Anspruch auf Zusatzurlaub nach § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V schon nach zwei zusammenhängenden Monaten der Wechselschichtarbeit entsteht, während § 41a Abs. 8 Satz 2 BMT-G II die Entstehung des Anspruchs an den Beginn des auf die Arbeitsleistung folgenden Urlaubsjahres bindet, zeigt sich der von § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V iVm. § 1, § 2 Abs. 1, § 6 Abs. 1 und 3 TV-AnwTV-V/BWB vollzogene Systemwechsel deutlich. Einen solchen Systemwechsel sieht § 42 Abs. 6 Unterabs. 1 Satz 1 BMT-G II nicht vor. Der Kläger konnte deswegen trotz des teilweisen Anspruchsausschlusses schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand seines Anspruchs aus § 41a BMT-G II entwickeln. Es kommt nicht darauf an, dass die Beklagte ihm im Jahr 2005 auf der Grundlage des TV-AnwTV-V/BWB iVm. § 14 Abs. 3 Satz 4 TV-V fünf Tage Zusatzurlaub gewährte.
b) Schutzwürdiges Vertrauen des Klägers wird auch nicht dadurch gehindert, dass die Tarifvertragsparteien zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Zusatzurlaub am 1. Januar 2005 bereits in konkreten Verhandlungen über die Ablösung des BMT-G II standen. Daraus folgt nur eine Information der an den Tarifverhandlungen beteiligten Vertreter der Tarifpartner. Die “betroffenen Kreise” kannten die bevorstehende Tarifänderung dennoch nicht zwingend. In ihrem Vertrauen zu schützen sind nicht die für die Tarifvertragsparteien handelnden Personen, sondern die normunterworfenen Arbeitnehmer in ihrer Gesamtheit. Ob der Kläger persönlich Kenntnis von den Tarifverhandlungen hatte, weil er Mitglied der Tarifkommission war, ist nicht entscheidend. Aus demselben Grund kann auf sich beruhen, ob das Thema des Zusatzurlaubs bereits während eines Seminars für Vertrauensleute und Personalratsmitglieder am 3. und 4. Februar 2004 im Rahmen einer Gegenüberstellung von BMT-G II und TVV angesprochen wurde. Auch eine Information der Vertrauensleute und Personalratsmitglieder war keine Information der “betroffenen Kreise”, solange dieses Wissen nicht an die gesamte betroffene Arbeitnehmerschaft der Beklagten weitergegeben wurde.
c) Ob das Vertrauen der Arbeitnehmer der Beklagten auf den Fortbestand ihrer Ansprüche auf Zusatzurlaub für im Jahr 2004 geleistete Wechselschichtarbeit nach § 41a BMT-G II durch Informationen in der Personalversammlung vom 11. November 2004 entfiel, wird das Landesarbeitsgericht dagegen aufzuklären haben. Es hätte die Behauptung der Beklagten, den tarifunterworfenen Arbeitnehmern sei seit der Personalversammlung im November 2004 bekannt gewesen, dass konkrete Verhandlungen über die Übernahme des TV-V stattgefunden hätten, seiner Entscheidung nicht als zugestanden zugrunde legen dürfen.
aa) Für diese Behauptung ist die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig, wie das Landesarbeitsgericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat. Das Vertrauen des Arbeitnehmers in den Fortbestand seiner Ansprüche ist bei echter Rückwirkung einer Tarifnorm nur ausnahmsweise nicht schutzwürdig.
bb) Der Kläger hat die Behauptung der Beklagten, Gegenstand der Personalversammlung vom 11. November 2004 sei auch der beabsichtigte Abschluss des Anwendungstarifvertrags gewesen, entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ausreichend iSv. § 138 Abs. 3 ZPO bestritten.
(1) Die Frage des ausreichenden Bestreitens ist ohne Bindung an eine Verfahrensrüge nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO zu prüfen. Überprüft wird nicht, ob “der Weg zum Urteil” richtig ist, sondern die inhaltliche Richtigkeit des Urteils (Reichold in Thomas/Putzo ZPO 28. Aufl. § 557 Rn. 9; vgl. auch Müller-Glöge in Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge ArbGG 5. Aufl. § 74 Rn. 39).
(2) Das ausreichende Bestreiten des Klägers hinsichtlich des Vortrags der Beklagten zu den in der Personalversammlung vom 11. November 2004 erteilten Informationen ergibt sich aus dem Tatbestand des Berufungsurteils. Zum Tatbestand gehört auch das Parteivorbringen in Schriftsätzen, auf die das Berufungsurteil Bezug nimmt (Müller-Glöge in Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge § 75 Rn. 15). In der angefochtenen Entscheidung wird auf die Berufungserwiderung vom 3. Juli 2006 verwiesen. Dort hat der Kläger ausdrücklich erklärt, es sei unzutreffend, dass in der Personalversammlung vom 11. November 2004 mitgeteilt worden sei, die Tarifvertragsparteien verhandelten konkret über die Einführung des TV-V. Es bestehe eine große Wahrscheinlichkeit, dass der TV-V bald Geltung beanspruchen werde. Darin ist ein ausdrückliches Bestreiten iSv. § 138 Abs. 3 ZPO zu sehen. In diesem Zusammenhang ist unbeachtlich, dass der Kläger weiter ausgeführt hat, es sei vielmehr so gewesen, dass das Thema Zusatzurlaub in der Personalversammlung nicht zur Sprache gekommen sei. Diese weitere Einlassung steht nicht unmittelbar in Widerspruch zu der Behauptung der Beklagten, die Arbeitnehmer seien über die mögliche Einführung des TV-V informiert worden. Dennoch entkräftet die weitere Einlassung das frühere ausdrückliche Bestreiten des Klägers nicht. Die Beklagte wird deshalb Gelegenheit zu einem in der Revisionsverhandlung für den Fall der Zurückverweisung bereits angekündigten Beweisantritt erhalten müssen.
Unterschriften
Krasshöfer, Gallner, Starke
Richterin am Bundesarbeitsgericht Reinecke ist wegen Erkrankung an der Unterschrift verhindert.
Krasshöfer
Der ehrenamtliche Richter Bruse ist wegen eines Auslandsaufenthalts an der Unterschrift verhindert.
Krasshöfer
Fundstellen
Haufe-Index 1848505 |
DB 2007, 2852 |