Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages
Leitsatz (amtlich)
1. Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages kann mit Rückwirkung ergehen, wenn bereits der erneuerte oder geänderte Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt war. In diesem Fall wird durch die mit Rückwirkung ergehende Allgemeinverbindlicherklärung weder der Grundsatz der Rechtssicherheit noch derjenige des Vertrauensschutzes verletzt.
2. Nach Ziff. 10.1 MTV Bewachung 1993 verfallen alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis mangels schriftlicher Geltendmachung auch in den Fällen der Sonderregelung des Abs. 2 – Geltendmachung der Ansprüche nach dem Ausscheiden bzw. nach Erhalt der Arbeitspapiere – spätestens drei Monate nach Fälligkeit.
Normenkette
TVG § 5; DVO TVG § 7 S. 3; TVG § 4 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 18. Oktober 1994 – 9 Sa 766/94 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über verschiedene Zahlungsansprüche des Klägers aus ihrem beendeten Arbeitsverhältnis.
Der am 14. November 1957 geborene Kläger trat am 8. März 1993 als Wachmann in die Dienste des Beklagten, der ein Unternehmen des Bewachungsgewerbes mit Sitz in H. betreibt. Das Ar- Arbeitsverhältnis der Parteien richtete sich nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom selben Tage. In diesem vereinbarten sie die Zahlung eines Stundenlohnes von 12,50 DM brutto und die Fälligkeit des monatlichen Arbeitsentgelts am 15. des Folgernonats. Hinsichtlich der Höhe der zu zahlenden Vergütung haben sie auf die tarifvertraglichen Vorschriften für das Bewachungsgewerbe in Nordrhein-Westfalen in der jeweils aktuellen Form” verwiesen. Auf den tariflichen Regelungen ist im Arbeitsvertrag auch bezüglich der Kündigungsfristen und des Urlaubsanspruchs Bezug genommen worden.
Mit Schreiben vom 5. Juli 1993 kündigte der Beklagte dem Kläger und teilte ihm mit, sein Resturlaub von 11 Tagen werde in den Kündigungszeitraum gelegt, so daß er nicht mehr zum Dienst zu erscheinen brauche. Die Parteien gehen übereinstimmend von der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses am 20. Juli 1993 durch diese Kündigung aus. Der Kläger erschien daraufhin nicht mehr bei dem Beklagten. Dessen Versuche, dem Kläger die Arbeitspapiere per Einschreiben/Rückschein zuzustellen, blieben erfolglos. Obwohl der Kläger im Juni 1993 250 Stunden gearbeitet hatte, erhielt er Vergütung weder für diesen Monat noch für den Monat Juli 1993, in dem er keine Arbeitsleistung mehr erbracht hatte.
Der Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 2. April 1993 (nachfolgend kurz: MTV Bewachung 1993), der den MTV Bewachung vom 14. Dezember 1989 (nachfolgend kurz: MTV Bewachung 1989, allgemeinverbindlich bis zum 31. Dezember 1992) ablöste, sah unter Ziffer 10.1 folgende mit denjenigen des abgelösten Tarifvertrages inhaltsgleiche Regelungen vor:
„Alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis können rückwirkend nur für einen Zeitraum von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden.
Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses können die beiderseitigen Ansprüche nur noch bis spätestens sechs Wochen nach dem Ausscheiden bzw. spätestens einen Monat nach Erhalt der Arbeitspapiere schriftlich geltend gemacht werden.”
Unter Ziff. 10.3 MTV Bewachung 1993 haben die Tarifvertrags-Parteien vereinbart:
„Die Allgemeinverbindlicherklärung dieses Tarifvertrages soll durch gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien erwirkt werden.”
Nach Ziff. 11.0 Abs. 1 Satz 1 MTV Bewachung 1993 trat dieser am 1. Januar 1993 in Kraft. Am 13. Oktober 1993 ist der Antrag der Tarifvertragsparteien, den MTV Bewachung 1993 für allgemeinverbindlich zu erklären, im Bundesanzeiger veröffentlicht worden (BAnz Nr. 193/1993 S. 9486); dabei wurde auf eine mögliche Rückwirkung hingewiesen. Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgte am 15. November 1993 mit Wirkung vom 1. Januar 1993. Sie wurde am 11. Dezember 1993 im BAnz Nr. 233/1993 (S. 10692) veröffentlicht.
Mit seiner am 19. November 1993 mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle angebrachten, dem Beklagten am 8. Dezember 1993 zugestellten Klage hat der Kläger diesen auf Herausgabe seiner ordnungsgemäß ausgefüllten Arbeitspapiere sowie auf Zahlung von seinerzeit 7.991,66 DM brutto nebst Verzugszinsen in Anspruch genommen. Nachdem die Parteien sich im ersten Rechtszug durch gerichtlichen Teilvergleich vom 13. April 1994 über die Übersendung der ordnungsgemäß ausgefüllten Arbeitspapiere geeinigt hatten, hat der Kläger diese vom Beklagten erhalten.
Mit seiner Klage fordert der Kläger vom Beklagten nunmehr noch die Zahlung von 7.192,66 DM brutto nebst 14 % Zinsen seit lern 15. August 1993. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus den Ansprüchen auf Lohn einschließlich Zuschlagen für Mehr-, Nacht- und Sonntagsarbeit für Juni 1993 in Höhe von 3.628,24 DM brutto, auf Urlaubsentgelt aus Juli 1993 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 20. Juli 1993 in Höhe von 2.984,52 DM brutto, auf Urlaubsgeld in Höhe von 228,78 DM brutto und auf Zuschläge für Mehrarbeit in den Monaten März bis Mai 1993 in Höhe von insgesamt 351,12 DM brutto.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Versäumung einer der tariflichen Ausschlußfristen der Ziff. 10.1 MTV Bewachung 1993 könne ihm nicht entgegengehalten werden. Er habe nicht damit zu rechnen brauchen, sein Arbeitsverhältnis zum Beklagten werde rückwirkend von einer tarifvertraglichen Verfallklausel erfaßt. Selbst wenn dies jedoch der Fall sei, seien seine Ansprüche nicht erloschen, denn deren Geltendmachung mit der Klage vom 19. November 1993 sei vor dem Erhalt der Arbeitspapiere nach Abschluß des gerichtlichen Teilvergleichs vom 13. April 1994 erfolgt.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 7.192,66 DM brutto nebst 14 % Zinsen ab dem 15. August 1993 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat geltend gemacht, das Arbeitsverhältnis sei durch den rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärten MTV Bewachung 1993 erfaßt worden. Die mit Rückwirkung ergangene Allgemeinverbindlicherklärung sei wirksam, denn die Manteltarifverträge des Bewachungsgewerbes in Nordrhein-Westfalen seien mindestens seit 1982 regelmäßig und immer aneinander anschließend für allgemeinverbindlich erklärt worden. Die Ausschlußfrist der Ziff. 10.1 Abs. 2 erste Alt. MTV Bewachung 1993 könne durch die Regelung der Ziff. 10.1 Abs. 2 zweite Alt. nur verkürzt, hingegen nicht verlängert werden. Die Frist der Ziff. 10.1 Abs. 2 erste Alt. MTV Bewachung 1993 habe der Kläger versäumt.
Das Arbeitsgericht hat die Zahlungsklage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Zahlungsantrag weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Er hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf die von ihm geforderte Zahlung.
I. Zu Recht haben die Vorinstanzen nicht geprüft, ob die mit der Klage verfolgten Zahlungsansprüche zugunsten des Klägers zur Entstehung gelangt sind. Denn seine etwaigen Ansprüche auf Zahlung von 7.192,66 DM brutto sind nach Ziff. 10.1 Abs. 1 MTV Bewachung 1993 verfallen. Dieser hat kraft der Allgemeinverbindlicherklärung mit unmittelbarer und zwingender Wirkung das Arbeitsverhältnis der Parteien erfaßt (§ 5 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).
1. Die Vorinstanzen sind, ohne dies zu begründen, davon ausgegangen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien in den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des MTV Bewachung 1993 fiel. Dies ist zutreffend. Darin stimmen auch die Parteien überein.
2. Da die Parteien weder tarifgebunden waren noch die umfassende Geltung des MTV Bewachung 1993 einzelvertraglich vereinbart haben, ist die vertraglich nicht in Bezug genommene tarifvertragliche Verfallklausel nur dann maßgeblich, wenn das Arbeitsverhältnis kraft Allgemeinverbindlicherklärung dem MTV Bewachung 1993 unterstanden hat.
2.1 Der Kläger verneint die Geltung des MTV Bewachung 1993 für das Arbeitsverhältnis der Parteien aus diesem rechtlichen Gesichtspunkt mit der Begründung, die Allgemeinverbindlicherklärung habe erst ab 15. November 1993 Wirksamkeit entfaltet, denn die rückwirkende Anordnung der Allgemeinverbindlichkeit am 15. November 1993 zum 1. Januar 1993 sei unwirksam, weil sie wegen ihrer Zeitdauer bereits endgültig zu Rechtsverlusten führen würde; sie habe daher das am 20. Juli 1993 beendete Arbeitsverhältnis nicht mehr erfaßt.
2.2 Dieser Ansicht ist das Landesarbeitsgericht zu Recht nicht gefolgt. Es hat ausgeführt, Tarifverträge könnten auch rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärt werden. Zwar müßten nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die an Art. 82 GG orientierten Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen bei der Rückwirkung von Allgemeinverbindlicherklärungen entsprechend angewendet werden; ein Verstoß gegen diese Grundsätze sei jedoch nicht ersichtlich. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei eine Rückwirkung dann nicht zu beanstanden, wenn die betroffenen Kreise von vornherein damit hätten rechnen müssen. Das Bundesarbeitsgericht habe daraus abgeleitet, daß ein Tarifvertrag, der erstmals für allgemeinverbindlich erklärt worden sei, Rückwirkung besitze, sofern auf diese Möglichkeit schon bei der Veröffentlichung des Antrags hingewiesen worden sei. In diesem Falle sei eine Rückwirkung jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Antragsveröffentlichung zulässig. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers, das einer Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung vom 15. November 1993 hätte entgegenstehen können, bestehe nicht. Es könne dahinstehen, ob die Allgemeinverbindlicherklärung – wie von den Tarifvertragsparteien gewollt – bereits zum 1. Januar 1993 rückwirkend habe in Kraft treten können; jedenfalls seien der Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung am 13. Oktober 1993 im Bundesanzeiger veröffentlicht und darin auf eine mögliche Rückwirkung hingewiesen worden. Spätestens ab diesem Zeitpunkt habe mit einer Rückwirkung gerechnet werden müssen. Im übrigen sei zu berücksichtigen, daß schon der MTV Bewachung 1989 für allgemeinverbindlich erklärt gewesen sei; dieser Tarifvertrag habe eine Ausschlußfrist enthalten, deren Formulierung der Ziff. 10.1 des MTV Bewachung 1993 entspreche. Aufgrund der demnach zulässigen rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung hätten die Rechtsnormen des MTV Bewachung 1993 auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und damit das Arbeitsverhältnis der Parteien erfaßt. Die folglich anwendbare Frist der Ziff. 10.1 Abs. 2 erste Alt. MTV Bewachung 1993 habe der Kläger nicht gewahrt, auch wenn man zu seinen Gunsten von einem Beginn der Ausschlußfrist am 13. Oktober 1993 – dem Tag der Veröffentlichung des Antrages auf Allgemeinverbindlicherklärung im Bundesanzeiger – ausgehe. Dies hat das Landesarbeitsgericht näher begründet. Die mit der Klage verfolgten Zahlungsansprüche seien somit erloschen.
2.3 Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.
2.3.1 Angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung im allgemeinen (Beschluß vom 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – BVerfGE 44, 322 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG) bedarf die Verfassungsmäßigkeit dieses Rechtsinstituts keiner Erörterung mehr. Auch die Regelung des Veröffentlichungsverfahrens für die Allgemeinverbindlicherkärung ist nach seiner Ansicht mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar (Beschluß vom 10. September 1991 – 1 BvR 561/89 – AP Nr. 27 zu § 5 TVG = NZA 1992, 125 f.). Diesbezüglich bringt auch der Kläger keine Einwendungen vor.
2.3.2 In der höchstrichterlichen Rechtsprechung und in der Literatur besteht auch fast uneingeschränkt Einigkeit darüber, daß die Allgemeinverbindlicherklärung grundsätzlich mit Rückwirkung ergehen kann (BAG Urteil vom 1. März 1956 – 2 AZR 183/54 – AP Nr. 1 zu § 4 TVG Effektivklausel; Urteile des Senats vom 3. Oktober 1979 – 4 AZR 903/77 – AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Land- und Forstwirtschaft; vom 3. November 1982 – 4 AZR 1255/79 – BAGE 40, 288 = AP Nr. 18 zu § 5 TVG; vom 12. Oktober 1908 – 4 AZR 244/88 – ZTR 1989, 108, insoweit nicht veröffentlicht; BAG Urteil vom 21. Juli 1988 – 2 AZR 527/87 – AP Nr. 10 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG Urteil vom 15. November 1995 – 10 AZR 150/95 –, n.v.; BVerwGE 80, 355, 373; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 5 Rz 54 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rz 45 f.; Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, 2. Aufl., § 5 Rz 20; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 8. Aufl., § 207 V 1; Brox, Anm. zum Urteil des Senats vom 3. November 1982 – 4 AZR 1255/79 – SAE 1983, 123; Pulte, AR-Blattei SD 1550.10, Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags, Rz 35; a.M. Herschel, Anm. zum Urteil des Senats vom 3. November 1982 – 4 AZR 1255/79 – BAGE 40, 288 = AP Nr. 18 zu § 5 TVG).
Von dieser Möglichkeit geht auch die Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes (DVO TVG) aus, die der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) aufgrund des § 11 TVG erlassen hat. Die DVO TVG vom 20. Februar 1970 (BGBl I S. 193) ist durch die Verordnung vom 19. Dezember 1988 (BGBl I S. 2307) geändert und in der geänderten Fassung am 16. Januar 1989 (BGBl I S. 76) bekanntgemacht worden. Geändert wurden mit Rücksicht auf die Entscheidung des Senats vom 3. November 1982 – 4 AZR 1255/79 –, a.a.O. (Lund, Die Änderung der Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes, DB 1989, 626, 627; Stahlhacke, Neufassung der Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes, NZA 1989, 334, 335) die Vorschriften, die die Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung betreffen. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 DVO TVG hat die Behörde nunmehr in der Antragsbekanntmachung darauf hinzuweisen, „daß die Allgemeinverbindlicherklärung mit Rückwirkung ergehen kann.” § 7 Satz 3 DVO TVG will – „ohne eigenständigen Regelungsgehalt” (so Lund, aaO, S. 627) – die wesentlichen Grundsätze für die Rückwirkung von Allgemeinverbindlicherklärungen deutlich machen. Danach liegt der Beginn der Allgemeinverbindlichkeit, „sofern es sich nicht um die Erneuerung oder die Änderung eines bereits für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages handelt, in aller Regel nicht vor dem Tag der Bekanntmachung des Antrages.”
2.4 Auch der Kläger zieht nicht in Zweifel, daß im Grundsatz die Allgemeinverbindlicherklärung mit Rückwirkung ergehen kann. Für den Streitfall hält er diese für die Zeit vom 1. Januar 1993 bis 14. November 1993 für unwirksam. Das Landesarbeitsgericht hat dahingestellt gelassen, ob die Allgemeinverbindlicherklärung – wie von den Tarifvertragsparteien gewollt – zum 1. Januar 1993 rückwirkend in Kraft treten konnte. Es hat angenommen, jedenfalls habe die Allgemeinverbindlicherklärung rückwirkend auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung des Antrages im Bundesanzeiger am 13. Oktober 1993 ergehen können; auch bei dieser eingeschränkten Rückwirkung seien die Ansprüche des Klägers verfallen.
2.5 Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung hätte die Klage nicht abgewiesen werden dürfen. War die Rückwirkung der Allgemeinverbindlichkeit des MTV Bewachung 1993 begrenzt auf die Zeit ab 13. Oktober 1993, hätte dieser das am 20. Juli 1993 bereits beendete Arbeitsverhältnis nicht erfaßt. Dies gilt auch hinsichtlich der Verfallklausel der Ziff. 10.1 MTV Bewachung 1993 für am 13. Oktober 1993 noch offene Ansprüche aus dem beendeten Arbeitsverhältnis. Zwar kann ein rückwirkender Tarifvertrag, ob er nun kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit oder kraft Allgemeinverbindlicherklärung zur Anwendung gelangt, auch bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer erfassen (Wiedemann/Stumpf, aaO, § 4 Rz 135; Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, aaO, § 4 Rz 33), allerdings – von Sonderfällen abgesehen – nur insoweit, als deren Arbeitsverhältnisse im zeitlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages bestanden haben (Wiedemann/Stumpf, aaO, § 4 Rz 397; Schaub, aaO, § 203 II 3 a). Denn nach ihrem persönlichen Geltungsbereich enthalten Tarifverträge regelmäßig Regelungen für die in – darin näher bestimmten – Betrieben „beschäftigten Arbeitnehmer”, nicht hingegen für frühere Arbeitnehmer dieser Betriebe.
2.6 Im Streitfall fiel das Arbeitsverhältnis mit seiner gesamten Dauer in den zeitlichen Geltungsbereich des MTV Bewachung 1993 und denjenigen seiner Allgemeinverbindlichkeit. Denn die Allgemeinverbindlicherklärung vom 15. November 1993 konnte zulässigerweise mit Rückwirkung zum 1. Januar 1993 ergehen.
2.6.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts müssen bei der Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung die Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind, entsprechend angewendet werden (Urteile vom 3. November 1982 – 4 AZR 1255/79 –, aaO; vom 12. Oktober 1988 – 4 AZR 244/88 –, aaO, insoweit nicht veröffentlicht; vom 15. November 1995 – 10 AZR 150/95 –, n.v.). Danach gestatten es das Rechtsstaatsprinzip, die Rechtssicherheit und der Grundsatz des Vertrauensschutzes auch dem Gesetzgeber nicht unbeschränkt, Gesetzen rückwirkende Geltung beizulegen. Insbesondere dürfen danach Gesetze nicht rückwirkend geändert werden, wenn dadurch Entscheidungen und Dispositionen des Bürger beeinflußt werden können (BVerfGE 30, 367, 385 f. und 13, 39, 45 f.) oder unabsehbare rückwirkende Belastungen eintreten (BVerfGE 23, 85, 93). Allerdings muß das Interesse des Bürgers im Einzelfalle schutzwürdig sein (BVerfGE 19, 119, 127; 22, 330, 347; 23, 85, 94; 25, 269, 291; 30, 367, 387; 32, 111, 123). Damit ist die mögliche Rückwirkung von Gesetzen dann rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die betroffenen Kreise damit von vornherein rechnen mußten (vgl. z.B. BVerfGE 13, 261, 272; 14, 288, 298; 18, 429, 439; 19, 187, 196; 22, 330, 347; 23, 12, 33).
2.6.2 Übertragen auf die Frage nach der Zulässigkeit der rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung liegt ein solcher Fall vor, wenn ein Tarifvertrag rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärt wird, durch den ein früherer allgemeinverbindlicher Tarifvertrag erneuert oder geändert wird. Bei dieser Sachlage müssen die Nichttarifgebundenen von vornherein nicht nur mit der Allgemeinverbindlicherklärung des Nachfolgetarifvertrages, sondern auch mit der Zurückbeziehung der Allgemeinverbindlicherklärung auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechnen. Durch die mit Rückwirkung ergehende Allgemeinverbindlicherklärung, mit der allein die lückenlose Tarifgeltung für Außenseiter erreicht werden kann, wird daher weder der Grundsatz der Rechtssicherheit noch derjenige des Vertrauensschutzes verletzt. Dies ist der Standpunkt der ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (BAG Urteil vom 21. Juli 1988 – 2 AZR 527/87 –, aaO; BVerwGE 80, 355, 373; Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, aaO, § 5 Rz 20; Löwisch/Rieble, aaO, § 5 Rz 45, 46; MünchArbR-Löwisch, Bd. 3, § 261 Rz 43, 44; Pulte, aaO, Rz 35; a.M. wohl, ohne eine solche Fallgestaltung anzusprechen, Herschel, aaO), den auch der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 12. Oktober 1988 (– 4 AZR 244/88 –, aaO) eingenommen hat. Daran ist festzuhalten.
2.6.3 Diese Rechtsauffassung liegt auch der bereits erwähnten Regelung des § 7 Satz 3 DVO TVG zugrunde. Danach soll der von dem zuständigen Minister bestimmte Beginn der Allgemeinverbindlichkeit in der Regel nicht vor dem Tage der Bekanntmachung des Antrages liegen. Diese ihm auferlegte Beschränkung entfällt aber immer dann, wenn es sich um die Erneuerung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages handelt (BVerwGE 80, 355, 373).
2.6.4 Nach diesen Grundsätzen richtet sich auch die Geltung einer tariflichen Verfallklausel in einem rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag. Der Auffassung von Leser (AR-Blattei bis 1991, Ausschlußfristen I, Übersicht, Ausschlußfristen im Arbeitsrecht, zu G V 8 a), der von der Zulässigkeit einer rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung ausgeht, offenbar aber annimmt, eine in einem rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag enthaltene Verfallklausel könne vor der Veröffentlichung der Allgemeinverbindlicherklärung entstandene oder fällig gewordene Ansprüche in keinem Falle erfassen, kann daher nicht gefolgt werden.
2.6.5 Mit dieser Entscheidung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu dem Urteil des Fünften Senats vom 26. September 1990 (– 5 AZR 218/90 – BAGE 66, 79 = AP Nr. 109 zu § 4 TVG Ausschlußfristen). In diesem hat der Fünfte Senat den Standpunkt eingenommen, daß dann, wenn die Tarifbindung der Parteien eines Arbeitsverhältnisses erst nach Vertragsabschluß eintritt oder ein Tarifvertrag ein Arbeitsverhältnis erst nach Vertragsabschluß erfaßt, die bis zum Zeitpunkt des Beginns der Tarifgeltung entstandenen Ansprüche von einer tariflichen Ausschlußklausel jedenfalls dann nicht erfaßt werden, wenn sich die Klausel keine ausdrückliche Rückwirkung beimißt. Eine solche Fallgestaltung lag auch der im vorgenannten Urteil zitierten Entscheidung des Zweiten Senats vom 27. November 1958 (– 2 AZR 9/58 – BAGE 7, 81 = AP Nr. 69 zu § 1 TVG Auslegung) zugrunde. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um die Frage, ob vor der Geltung des Tarifvertrages – ob diese nun auf beiderseitiger Tarifgebundenheit oder auf Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages beruht – entstandene Ansprüche von einer in diesem enthaltenen Verfallklausel erfaßt werden, sondern um die Anwendung einer tarifvertraglichen Verfallklausel auf Ansprüche, deren Entstehung kraft der rückwirkend herbeigeführten Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages in den Zeitraum fällt, in welchem der Tarifvertrag für das Arbeitsverhältnis mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Geltung hatte (§ 5 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).
2.7 Der MTV Bewachung 1993 vom 2. April 1993, von den Tarifvertragsparteien rückwirkend in Kraft gesetzt zum 1. Januar 1993, hat den bis zum 31. Dezember 1992 geltenden und bis dahin allgemeinverbindlichen MTV Bewachung 1989 abgelöst. In Ziff. 10.3 MTV Bewachung 1993 haben die Parteien ausdrücklich den Hinweis aufgenommen, daß seine Allgemeinverbindlicherklärung durch gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien erwirkt werden soll. Bei dieser Sachlage mußte der Kläger von vornherein mit der rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung des MTV Bewachung 1993 zum 1. Januar 1993 rechnen und die darin enthaltene Verfallklausel beachten. Auf diese konnte er sich auch einrichten: Ansprüche aus dem ersten Abrechnungsmonat des am 8. März 1993 begründeten Arbeitsverhältnisses wurden nach Ziff. 5 des schriftlichen Arbeitsvertrages der Parteien vom selben Tage am 15. April 1993 fällig. Zu diesem Zeitpunkt lag bereits der am 2. April 1993 abgeschlossene MTV Bewachung 1993 vor, dessen Verfallfristenregelung im übrigen mit derjenigen der Ziff. 10.1 des MTV Bewachung 1989 identisch ist. Auf die Frage, ob und inwieweit die Rückwirkung eines Tarifvertrages zulässig ist (vgl. dazu grundlegend das Urteil des Senats vom 23. November 1994 – 4 AZR 879/93 – AP Nr. 12 zu § 1 TVG Rückwirkung, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen), insbesondere auch hinsichtlich einer darin enthaltenen Verfallklausel (vgl. Urteil des Senats vom 14. Juli 1965 – 4 AZR 358/64 – BAGE 17, 248 = AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge: BAVAV), kommt es hier nicht an.
2.8 Angesichts der vom Kläger in Rechnung zu stellenden Rückwirkung der Allgemeinverbindlichkeit des MTV Bewachung 1993 mit der bei Fälligwerden seiner Ansprüche vorliegenden Verfallklausel kommt auch die Einräumung einer angemessenen Nachfrist zur Geltendmachung von Ansprüchen, die vor dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Allgemeinverbindlicherklärung fällig geworden sind, nicht in Betracht. Diese mag als angemessene Lösung in Erwägung zu ziehen sein, wenn eine Verfallklausel erstmals in einen Tarifvertrag eingefügt oder die bisherige Verfallklausel geändert wird und die tarifvertragliche Neuregelung bereits entstandene Ansprüche erfaßt (vgl. dazu BAG Urteil vom 24. April 1958 – 2 AZR 37/56 – AP Nr. 1 zu § 16 JugSchG Niedersachsen; ablehnend hingegen BAG Urteil vom 26. September 1990 – 5 AZR 218/90 –, aaO). In diesen Fallgestaltungen ist es den mit Rückwirkung Tarifunterworfenen regelmäßig nicht möglich, ihr Verhalten vor Abschluß des Tarifvertrages auf die in ihm enthaltene neue Verfallklausel einzurichten. Anders verhält es sich, wenn ein bereits vorliegender und in Geltung befindlicher Tarifvertrag rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärt wird und die Tarifunterworfenen mit der rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung rechnen müssen.
3. Die Verfallklausel der Ziff. 10.1 MTV Bewachung 1993 gilt für alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis. Der Kläger mußte daher seine mit der Klage verfolgten Zahlungsansprüche zur Meidung ihres Erlöschens nach deren Maßgaben gegenüber dem Beklagten schriftlich geltend machen. Dies hat der Kläger versäumt.
3.1 Alle mit der Klage verfolgten Zahlungsansprüche sind jedenfalls deshalb erloschen, weil der Kläger die Frist der Ziff. 10.1 Abs. 1 MTV Bewachung 1993, nach der alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis rückwirkend nur für einen Zeitraum von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden können, nicht gewahrt hat: Etwaige Zahlungsansprüche des Klägers aus dem Monat Juli 1993, in dem das Arbeitsverhältnis der Parteien sein Ende gefunden hat, sind nach der arbeitsvertraglichen Fälligkeitsabrede in Ziff. 5 des Arbeitsvertrages am 15. August 1993 fällig geworden und nach Ablauf von 3 Monaten ab Fälligkeit am 15. November 1993 erloschen, denn deren schriftliche Geltendmachung ist erstmals am 19. November 1993 durch Anbringung der Zahlungsklage zu Protokoll der Rechtsantragsstelle des Arbeitsgerichts Köln erfolgt. Daraus folgt zugleich auch das Erlöschen der etwaigen Zahlungsansprüche des Klägers aus den Monaten März bis Juni 1993.
3.2 Hat der Kläger aber bereits die Grundfrist der Ziff. 10.1 Abs. 1 MTV Bewachung 1993 für die Geltendmachung seiner Ansprüche versäumt, ist es entbehrlich, auf das Vorliegen der Voraussetzungen für den Verfall von Ansprüchen nach den beiden Alternativen der Ziff. 10.1 Abs. 2 MTV Bewachung 1993 einzugehen. Denn nach diesen können Ansprüche nicht später erlöschen, als dies nach der Grundfrist der Ziff. 10.1 Abs. 1 MTV Bewachung 1993 der Fall ist. Dies folgt eindeutig daraus, daß die Tarifvertragsparteien im Anschluß an die Grundfrist der Ziff. 10.1 Abs. 1 MTV Bewachung 1993 – rückwirkende schriftliche Geltendmachung von Ansprüchen nur für einen Zeitraum von drei Monaten nach Fälligkeit – bestimmt haben, daß nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die beiderseitigen Ansprüche „nur noch bis spätestens …” geltend gemacht werden können. Dies kann nur im Sinne der Verkürzung der Verfallfrist der Ziff. 10.1 Abs. 1 MTV Bewachung 1993 für den Fall der Geltendmachung von Ansprüchen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden werden (so auch Urteil des Zweiten Senats vom 21. März 1996 – 2 AZR 368/95 – n.v., unter II 2 c der Gründe).
Ob die zweite Alt. der Ziff. 10.1 Abs. 2 MTV Bewachung 1993 wiederum eine Verkürzung der Verfallfrist der Ziff. 10.1 Abs. 2
erste Alt. MTV Bewachung 1993 zum Inhalt hat, wie das Landesarbeitsgericht mit ausführlicher Begründung angenommen hat, kann hier ebenso dahinstehen wie die Richtigkeit der Auffassung des Klägers, für die schriftliche Geltendmachung von Ansprüchen nach der hier einschlägigen Verfallklausel komme es nicht auf den Zeitpunkt der Zustellung der Klage an, sondern auf den ihrer Einreichung, denn auch diese hat die Frist der Ziff. 10.1 Abs. 1 MTV Bewachung 1993 nicht gewahrt.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Schaub, Friedrich, Bott, Konow, Schamann
Fundstellen
Haufe-Index 439053 |
BAGE, 147 |
NZA 1997, 495 |
AP, 0 |