Ein sachlicher Grund kann darin liegen, dass mit dem höheren Zuschlag neben den spezifischen Belastungen durch die Nachtarbeit auch die Belastungen durch die geringere Planbarkeit eines Arbeitseinsatzes in unregelmäßiger Nachtarbeit ausgeglichen werden sollen.
Der Fall: Arbeitnehmerin wendet sich gegen ungleiche Nachtarbeitszuschläge
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Getränkeindustrie. Die Klägerin leistete dort im Streitzeitraum Nachtarbeit im Rahmen eines Wechselschichtmodells. Im Arbeitsverhältnis der Parteien gilt der Manteltarifvertrag zwischen dem Verband der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost e.V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Hauptverwaltung vom 24.3.1998 (MTV).
Der MTV regelt, dass der Zuschlag zum Stundenentgelt für regelmäßige Nachtarbeit 20 % und für unregelmäßige Nachtarbeit 50 % beträgt. Arbeitnehmer, die Dauernachtarbeit leisten oder in einem 3-Schicht-Wechsel eingesetzt werden, haben daneben für je 20 geleistete Nachtschichten Anspruch auf einen Tag Schichtfreizeit.
Die Klägerin erhielt für die von ihr geleistete regelmäßige Nachtschichtarbeit den Zuschlag i.H.v. 20 %. Sie ist der Auffassung, die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung bestehe unter dem Aspekt des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, auf den es allein ankomme, nicht. Der Anspruch auf Schichtfreizeit beseitige die Ungleichbehandlung nicht, da damit nicht die spezifischen Belastungen durch die Nachtarbeit ausgeglichen würden. Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin weitere Nachtarbeitszuschläge in Höhe der Differenz zwischen dem Zuschlag für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage teilweise stattgegeben (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.6.2020, Az. 8 Sa 2030/19). Auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Zehnten Senats des BAG hat der EuGH mit Urteil vom 7.7.2022 (Az. C-257/21) entschieden, dass die Regelung von Nachtarbeitszuschlägen in Tarifverträgen keine Durchführung von Unionsrecht ist.
BAG: Unterschiedliche Regelung kann verschiedene – zulässige - Ursachen haben!
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat des BAG Erfolg (BAG, Urteil vom 22.2.2023, Az. 10 AZR 332/20). Die Regelung im MTV zu unterschiedlich hohen Zuschlägen für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Arbeitnehmer, die regelmäßige bzw. unregelmäßige Nachtarbeit im Tarifsinn leisten, sind zwar miteinander vergleichbar. Auch werden sie ungleich behandelt, indem für unregelmäßige Nachtarbeit ein höherer Zuschlag gezahlt wird als für regelmäßige Nachtarbeit.
Für diese Ungleichbehandlung sei vorliegend aber ein aus dem Tarifvertrag erkennbarer sachlicher Grund gegeben. Der MTV beinhaltet zunächst einen angemessenen Ausgleich für die gesundheitlichen Belastungen sowohl durch regelmäßige als auch durch unregelmäßige Nachtarbeit und hat damit Vorrang vor dem gesetzlichen Anspruch auf einen Nachtarbeitszuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG. Daneben bezwecke der MTV aber auch, Belastungen für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, wegen der schlechteren Planbarkeit dieser Art der Arbeitseinsätze auszugleichen.
Den Tarifvertragsparteien sei es im Rahmen der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifautonomie nicht verwehrt, mit einem Nachtarbeitszuschlag neben dem Schutz der Gesundheit weitere Zwecke zu verfolgen. Dieser weitere Zweck ergibt sich aus dem Inhalt der Bestimmungen des MTV. Eine Angemessenheitsprüfung im Hinblick auf die Höhe der Differenz der Zuschläge erfolgt nicht. Es liegt im Ermessen der Tarifvertragsparteien, wie sie den Aspekt der schlechteren Planbarkeit für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, finanziell bewerten und ausgleichen.
Wichtig für die Praxis
Das BAG macht deutlich, dass die Tarifvertragsparteien einen weiten Spielraum haben, wenn es um solche Regelungen geht und dass neben dem zentralen Aspekt des Gesundheitsschutzes auch andere Kriterien die Höhe eines Zuschlags ausmachen können. Gerade unter dem vieldiskutierten Aspekt der sog. „Work-Live-Balance“ sind hier Ausgleichszahlungen für die mangelnde Planbarkeit der Freizeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Zu diesen Tarifregelungen sind tausende Verfahren derzeit vor den Arbeitsgerichten anhängig. Das BAG weist darauf hin, dass weitere Verfahren mit vergleichbaren tariflichen Regelungen zum Manteltarifvertrag für die Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie vom 16.3.1989 (Az. 10 AZR 379/20), zum Manteltarifvertrag für die milchbe- und verarbeitenden Molkereibetriebe Niedersachsen/Bremen vom 22.1.1997 (Az. 10 AZR 461/20) sowie zum Bundesmanteltarifvertrag für die Süßwarenindustrie vom 14.5.2007 (Az. 10 AZR 397/20) zugleich entscheiden wurden. In diesen Verfahren hatten die Vorinstanzen die Klagen jeweils abgewiesen. Auch die Auslegung dieser Tarifverträge ergebe, dass mit den höheren Zuschlägen bei unregelmäßig auftretender Nachtarbeit neben dem spezifischen Ausgleich für die Nachtarbeit die zusätzlichen Belastungen durch die fehlende Planbarkeit solcher Arbeitseinsätze ausgeglichen werden sollen. Insofern werden auch die weiteren Verfahren ein ähnliches Schicksal haben.