Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an den Bevollmächtigten?
Leitsatz (amtlich)
1. § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 regelt seinem Wortlaut nach nur die Frage, ob eine wirksame Bekanntgabe (auch) an einen Bevollmächtigten erfolgen kann. Es bleibt offen, ob die Vorschrift deshalb dahin auszulegen ist, dass die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, die Rechtsbehelfsfrist auch dann in Lauf setzt, wenn ein Bevollmächtigter bestellt ist.
2. Eine Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an den Bevollmächtigten des Steuerpflichtigen besteht nur dann, wenn für den Steuerpflichtigen als denjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist, ein Bevollmächtigter eindeutig und unmissverständlich gerade (auch) als Bekanntgabeadressat bestellt worden ist und sich dies unmittelbar aus der diesbezüglichen Erklärung des Steuerpflichtigen bzw. seines Bevollmächtigten ergibt.
Normenkette
AO 1977 § 80 Abs. 3, § 122 Abs. 1
Verfahrensgang
FG des Landes Brandenburg (EFG 1999, 203; LEXinform-Nr. 0146831) |
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) hat den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) auf Haftung für Kraftfahrzeugsteuer in Anspruch genommen. Bevor das FA den Haftungsbescheid erließ, gab das FA dem Kläger Gelegenheit, Stellung zu nehmen. Mit Schreiben vom … 1996 teilte der Kläger mit, dass er mit der Klärung der Ansprüche einen Rechtsanwalt beauftragt habe. Sollte das FA noch weitere Fragen haben, solle es sich mit dem Rechtsanwalt in Verbindung setzen.
Den gegen den Haftungsbescheid vom 10. September 1996, der dem Kläger bekannt gegeben worden ist, am 1. November 1996 eingelegten Einspruch wies das FA als verspätet zurück. Die gegen die Einspruchsentscheidung gerichtete Klage hatte Erfolg (in Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1999, 203 veröffentlichtes Urteil des Finanzgerichts ―FG― vom 15. September 1998). Das FG hob die Einspruchsentscheidung auf und entschied, nach § 122 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) sei ein Verwaltungsakt zwar demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt sei; er könne jedoch auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden. Sei für das Verfahren ein Bevollmächtigter bestellt, so solle sich das FA nach § 80 Abs. 3 AO 1977 an diesen wenden. Eine ausdrückliche Zustellungsvollmacht sei nicht erforderlich, wenn eine allgemeine Vollmacht vorliege. Der Kläger habe in dem vor Erteilung des Haftungsbescheids an das FA gerichteten Schreiben eine Vollmachtserklärung abgegeben, indem er darin den Anwalt ―ohne Einschränkung― beauftragt habe. Aus dem Schreiben ergebe sich ein besonderes Interesse des Klägers an der Bekanntgabe an den Bevollmächtigten. Die Rechtsbehelfsfrist habe daher erst mit Weiterleitung des Haftungsbescheids an den Bevollmächtigten zu laufen begonnen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des FA, die im Wesentlichen damit begründet wird, dass das Urteil des FG von der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. Juli 1987 I R 367, 379/83 (BFHE 152, 1, BStBl II 1988, 242) abweiche. Das FG vertrete nämlich die Auffassung, dass das FA beim Fehlen einer schriftlichen Vollmacht bereits aus dem allgemeinen Hinweis des Steuerpflichtigen, er habe einen Rechtsanwalt beauftragt, auf eine uneingeschränkte Vollmacht auch zur Empfangnahme von Verwaltungsakten schließen und sein Ermessen nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 dahin gehend ausüben müsse, Bescheide dem Bevollmächtigten bekannt zu geben. Der BFH habe hingegen in diesem Urteil erkannt, dass das FA nur dann von einer Empfangsvollmacht ausgehen müsse, wenn besondere Umstände des Einzelfalls das Interesse des Steuerpflichtigen an einer Bekanntgabe gegenüber dem Bevollmächtigten eindeutig erkennen ließen. Sonst führe die Bevollmächtigung grundsätzlich nur dazu, dass das FA nach § 80 Abs. 3 AO 1977 gehalten sei, sich mit Rückfragen an den Bevollmächtigten zu wenden. Hingegen müsse die Bekanntgabe von Bescheiden nach § 122 Abs. 1 AO 1977 in der Regel auch dann gegenüber dem Steuerpflichtigen erfolgen, wenn sich dieser gegenüber dem FA vertreten lasse (Hinweis auf das Urteil des BFH vom 30. Juli 1980 I R 148/79, BFHE 131, 270, BStBl II 1981, 3). Selbst bei Vorliegen einer Vollmacht sei ein Verwaltungsakt nur dann dem Bevollmächtigten bekannt zu geben, wenn dieser ausdrücklich als Empfangsbevollmächtigter benannt worden sei (Hinweis auf das Urteil des BFH vom 2. Oktober 1986 VII R 58/83, BFH/NV 1987, 482). Eine allgemeine Erklärung des Steuerpflichtigen, er habe einen Rechtsanwalt beauftragt, genüge nicht.
Das FA beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Im Streitfall ist der Einspruch nicht binnen eines Monats nach Bekanntgabe des angefochtenen Haftungsbescheids gegenüber dem Kläger eingelegt worden. Er ist deshalb unzulässig; denn die Bekanntgabe an den Kläger war wirksam und hat die Rechtsbehelfsfrist in Lauf gesetzt. Die Auffassung des FG, der Einspruch sei zulässig, weil das FA verpflichtet gewesen sei, von der ihm durch § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 eröffneten Möglichkeit Gebrauch zu machen, den angefochtenen Bescheid einem vom Kläger bevollmächtigten Rechtsanwalt (als sog. Bekanntgabeadressaten) bekannt zu geben, verletzt Bundesrecht.
1. Nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist. Der Verwaltungsakt kann auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden (§ 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977).
§ 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 regelt seinem Wortlaut nach nur die ―hier nicht entscheidungserhebliche― Frage, ob eine wirksame Bekanntgabe (auch) an einen Bevollmächtigten erfolgen kann; er stellt klar, dass die dem Bevollmächtigten gegenüber vorgenommene Bekanntgabe im Verhältnis zum Betroffenen wirksam ist (vgl. Drescher, Der übergangene Bevollmächtigte - Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an den Betroffenen selbst trotz Bestellung eines Verfahrensbevollmächtigten?, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ―NVwZ― 1988, 680; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 122 AO 1977 Tz. 42 ff; Meyer/ Borgs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., § 41 Rdnr. 10). Der BFH hat deshalb in BFHE 131, 270, BStBl II 1981, 3 die Vertretung durch einen Steuerberater nicht als der ordnungsgemäßen Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen hinderlich angesehen. Dem entspricht das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 30. Oktober 1997 3 C 35.96 (BVerwGE 105, 288, 292), wonach zwar eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen ist, wem der Verwaltungsakt nach § 41 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes ―VwVfG― (= § 122 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) bekannt gegeben wird, jedoch eine Bekanntgabe an den Adressaten des Verwaltungsakts den Verwaltungsakt in jedem Falle wirksam werden lässt. Nach dieser Entscheidung des BVerwG ist es also bei Bekanntgabe an den Betroffenen für den Eintritt der Bekanntgabewirkungen unerheblich, ob für diesen ein Bevollmächtigter bestellt war oder nicht.
Der erkennende Senat kann indes die Frage, ob die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, die Rechtsbehelfsfrist auch dann in Lauf setzt, wenn ein Bevollmächtigter bestellt war, im Streitfall unentschieden lassen. Denn die Bekanntgabe des Haftungsbescheids des FA ist unabhängig von der Beantwortung dieser Frage wirksam.
2. § 122 Abs. 1 AO 1977 sieht zwei Möglichkeiten der Bekanntgabe eines Verwaltungsakts vor (Bekanntgabe an den Betroffenen oder an dessen Bevollmächtigten) und stellt die Auswahl zwischen ihnen grundsätzlich in das Ermessen der Finanzbehörde. Die AO 1977 hat für die (schlichte) Bekanntgabe von Verwaltungsakten nicht die Regelung für förmliche Zustellungen (vgl. hierzu § 122 Abs. 5 AO 1977) aus § 8 Abs. 1 Satz 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) übernommen, wonach Zustellungen an den allgemein oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Vertreter zu richten sind, wenn er eine schriftliche Vollmacht vorgelegt hat. § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 gibt der Finanzbehörde vielmehr die Möglichkeit, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob sie einen Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen selbst oder dessen Bevollmächtigtem bekannt gibt (vgl. BTDrucks 7/4292). Ausschlaggebend hierfür war, dass der Gesetzgeber die von der damaligen Rechtsprechung zur Ausübung des in § 8 Abs. 1 Satz 1 VwZG geregelten Wahlrechts entwickelten Grundsätze ―§ 8 Abs. 1 Satz 2 VwZG ist erst später eingefügt worden― für ausreichend hielt, um den Ermessensspielraum der Finanzbehörde nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 zu begrenzen.
Die von der Behörde nach § 122 Abs. 1 AO 1977 vorzunehmende Ermessensentscheidung, ob ein Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen oder seinem Bevollmächtigten bekannt zu geben ist, ist nach § 5 AO 1977 entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ―unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens― zu treffen. Die Einräumung des insoweit bestehenden Auswahlermessens sollte nach den gesetzgeberischen Vorstellungen dem Ziel dienen, die Behörde nicht über das notwendige Maß hinaus zu binden und ihr dadurch die Möglichkeit lassen, den vielfältigen Erscheinungen der Massenverwaltung individuell Rechnung zu tragen (vgl. Oberverwaltungsgericht ―OVG― Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Dezember 1989 22 A 235/86, Betriebs-Berater ―BB― 1990, 2249).
Ausgehend von der Rechtsprechung des BFH zu § 8 Abs. 1 VwZG a.F. (vgl. Urteile vom 11. August 1954 II 239/53 U, BFHE 59, 305, BStBl III 1954, 327; vom 25. Oktober 1963 III 7/60 U, BFHE 77, 764), auf die der Gesetzgeber ausdrücklich verwiesen hat, können bei der Ermessensentscheidung verschiedene Umstände berücksichtigt werden, die entweder zu einer Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen oder an den Bevollmächtigten führen. So ist ein Ermessensmissbrauch u.a. dann gegeben, wenn sich das FA bei gleichbleibenden Verhältnissen eine Zeit lang ständig an den Bevollmächtigten, dann aber ohne ersichtlichen Grund an den Steuerpflichtigen selbst wendet (Urteil in BFHE 59, 305, BStBl III 1954, 327). Ferner ist ein Ermessensfehler z.B. dann angenommen worden, wenn das FA durch die Aufführung des Bevollmächtigten im Rubrum (bei einer Einspruchsentscheidung) und in den Gründen einer Entscheidung ―auch wenn keine schriftliche Vollmacht eingereicht worden ist― ersichtlich von einer Bevollmächtigung ausgeht und die Entscheidung trotzdem nicht dem Bevollmächtigten bekannt gibt (Urteil in BFHE 77, 764).
Im Streitfall hat das FG Ermessensfehler solcher Art nicht festgestellt; insbesondere besteht nach seinen Feststellungen kein Anhaltspunkt dafür, dass das FA bei der Auswahl des Klägers als Bekanntgabeadressaten von unsachlichen, mit dem Zweck der Ermessensermächtigung nicht vereinbaren Erwägungen ausgegangen wäre.
Eine Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an den Bevollmächtigten des Steuerpflichtigen aufgrund einer das Ermessen des FA verengenden besonderen Sachlage ("Ermessensreduktion auf Null") besteht nur dann, wenn für den Steuerpflichtigen als denjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist, ein Bevollmächtigter eindeutig und unmissverständlich gerade (auch) als Bekanntgabeadressat bestellt worden ist und sich dies unmittelbar aus der diesbezüglichen Erklärung des Steuerpflichtigen bzw. seines Bevollmächtigten ergibt; anderenfalls ist die Finanzbehörde grundsätzlich in der Auswahl des Bekanntgabeadressaten frei. Dementsprechend hat die Rechtsprechung des BFH dem FA bei der nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 gebotenen Ermessensentscheidung in der Regel nur dann kein Wahlrecht eingeräumt, wenn der Steuerpflichtige ihr ausdrücklich mitgeteilt hat, dass er einen bestimmten Vertreter (gerade auch) zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ermächtige (vgl. Senatsurteil vom 23. November 1999 VII R 38/99, BFH/NV 2000, 549; BFH-Urteile vom 28. Februar 1990 I R 82/87, BFH/NV 1990, 686; vom 8. Dezember 1988 IV R 24/87, BFHE 155, 472, BStBl II 1989, 346; vom 22. Juli 1987 I R 180, 181/84, BFH/NV 1988, 274 ―Leitsatz―; BFH-Beschlüsse vom 12. März 1998 IX B 112/97, BFH/NV 1998, 941, und vom 24. April 1985 I S 1/85, BFH/NV 1986, 320).
Der Ermessensspielraum des FA wird hingegen nicht schon dadurch "auf Null" reduziert, dass sich die Bestellung eines Bevollmächtigten im Wege einer Auslegung der Erklärung des Beteiligten oder seines Vertreters unter Berücksichtigung aller (insbesondere auch außerhalb der Vollmachtserklärung liegender) Umstände des Einzelfalles ermitteln lässt. Die Vollmacht stellt zwar eine verfahrensrechtliche Willenserklärung dar, deren Inhalt durch Auslegung unter Beachtung des Empfängerhorizonts zu ermitteln ist (vgl. BFH-Beschluss vom 4. August 1999 X B 209/98, BFH/NV 2000, 163; BFH-Urteil vom 19. Oktober 1994 II R 131/91, BFH/NV 1995, 475). Der Umfang einer Vollmacht ist demnach so zu bestimmen, wie ein objektiver Empfänger die Erklärung verstehen muss. Auch eine allgemein erteilte Verfahrensvollmacht, die nicht eindeutig und ausdrücklich zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ermächtigt, kann folglich stillschweigend oder konkludent eine Empfangsvollmacht enthalten und deshalb Grundlage dafür sein, dass die Finanzbehörde einen Verwaltungsakt an den Bevollmächtigten wirksam bekannt geben kann.
Jedoch kann aus § 122 Abs. 1 AO 1977 nicht hergeleitet werden, dass die Finanzbehörde die Grenzen des ihr durch Satz 3 dieser Vorschrift eröffneten Auswahlermessens überschreitet, wenn sie einen Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen selbst bekannt gibt, obwohl sie gemäß Satz 3 die Möglichkeit hätte, dessen Bevollmächtigten als Bekanntgabeadressaten auszuwählen; dass sie also mit anderen Worten einen Verwaltungsakt stets dem Bevollmächtigten bekannt geben muss, wenn sie ihm diesen aufgrund einer ―wenn auch nur im Wege der Auslegung diesbezüglicher Erklärungen des Steuerpflichtigen oder seines Vertreters zu ermittelnden― Bestellung eines Vertreters bekannt geben kann. Eine dahin gehende Auslegung der Vorschrift, welche der Finanzbehörde noch weiter gehende Bindungen auferlegen würde als dies § 8 Abs. 1 Satz 2 VwZG tut, würde dem vorgenannten Sinn des vom Gesetzgeber geschaffenen Wahlrechts gerade widersprechen und überdies der Rechtssicherheit abträglich sein, weil die Auslegung von Willenserklärungen oftmals mit Unsicherheiten behaftet ist, so dass die Finanzbehörde bei der Bekanntgabe des Verwaltungsakts an den vermeintlichen Bevollmächtigten Gefahr liefe, sich den Vollmachtsmangel, bei der Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen hingegen Ermessensmissbrauch entgegenhalten lassen zu müssen, ohne dass ihr überhaupt ein "sicherer" Weg zur Bekanntgabe ihres Bescheids zu Gebote stünde (vgl. hierzu auch BVerwG-Urteil in BVerwGE 105, 288).
Auch aus § 80 Abs. 3 Satz 1 AO 1977, wonach sich die Behörde an einen Bevollmächtigten wenden soll, wenn ein solcher bestellt ist, d.h. sofern nicht besondere Gründe für ein abweichendes Verhalten bestehen (vgl. BTDrucks 7/4292), lässt sich nicht herleiten, dass die Finanzbehörde einen Verwaltungsakt stets dem Bevollmächtigten bekannt geben muss, wenn ein solcher bestellt ist.
Das Verhältnis von § 122 Abs. 1 Satz 3 zu § 80 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 ist allerdings umstritten. Die Motive des Gesetzgebers geben an sich keinen Anhalt dafür, dass er mit § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 den in § 80 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 ausgestalteten Verfahrensgrundsatz durchbrechen wollte, wonach sich der Beteiligte wegen des Anspruchs auf ein faires Verfahren jederzeit vertreten lassen darf (vgl. Rüsken in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 80 AO 1977 Rz. 123). Der Gesetzgeber hat aber offenbar dem Steuerpflichtigen ein besonderes Interesse daran unterstellt, grundsätzlich als erster von Bescheiden der Finanzverwaltung in Kenntnis gesetzt zu werden, um sich rasch Gedanken über die Einlegung von Rechtsbehelfen machen zu können. Der Gesetzgeber wollte also für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten besondere Regeln schaffen. Die gegenteilige Auffassung würde § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 bedeutungslos machen. Die (weitere) Ermessensermächtigung des § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 stellt folglich eine lex specialis zu § 80 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 dar und der scheinbare Widerspruch, dass sich die Behörde bei Bestellung eines Bevollmächtigten im Verlauf des Verwaltungsverfahrens vorrangig an diesen zu wenden hat, während sie bei Maßnahmen nach § 118 AO 1977 den Verwaltungsakt auch gegenüber dem Betroffenen selbst bekannt geben darf, erklärt sich durch die unterschiedliche Bewertung der Interessenlage bei der Bekanntgabe von Bescheiden und sonstigen verfahrensrechtlichen Maßnahmen der Behörde. Überdies können der Behörde bei solchen Maßnahmen strengere Ermessensbindungen auferlegt werden als bei der Bekanntgabe von Verwaltungsakten, deren Wirksamkeit, wie ausgeführt, nicht von der mitunter schwierig zu beurteilenden Frage abhängig gemacht werden kann, ob ein Vertreter wirksam bestellt ist oder nicht.
3. Das FG hat im Streitfall nicht festgestellt, dass die Erklärung des Klägers im Schreiben vom … 1996 eindeutig war, sondern es hat im Gegenteil ausgeführt, dass eine "ausdrückliche Bekanntgabevollmacht" nicht erteilt worden sei. Das FG ist damit im Ergebnis rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass eine Ermessensreduzierung auf Null und eine daraus folgende Verpflichtung zur Bekanntgabe an den Bevollmächtigten für das FA auch in den Fällen bestehe, in denen die Erklärung des Beteiligten oder seines Bevollmächtigten auslegungsbedürftig, also nicht klar und unmissverständlich ist.
4. Das Urteil des FG, das mithin Bundesrecht verletzt, ist auch nicht im Ergebnis richtig (§ 126 Abs. 4 FGO). Es ist deshalb aufzuheben.
Vorliegend ergibt sich aus dem Schreiben des Klägers vom … 1996 nicht eindeutig, dass der Kläger seinen Rechtsanwalt auch zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ―hier des Haftungsbescheids― bevollmächtigt hat. Dafür wäre (entsprechend der z.B. im Mantelbogen der Einkommensteuererklärung vorgesehenen Angabe) erforderlich gewesen, den angeblich beauftragten Anwalt entweder als Empfangsbevollmächtigten für Bescheide (Verwaltungsakte) zu bezeichnen oder mit sinngleichen Worten seine diesbezügliche Vollmacht hervorzuheben oder zumindest sonst in irgendeiner anderen Form eindeutig und unmissverständlich klarzustellen, dass sich das FA nicht nur entsprechend der in § 80 Abs. 3 AO 1977 aufgestellten Regel während des Verfahrens an den Bevollmächtigen wenden, sondern abweichend von § 122 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 auch einen von ihm ggf. erlassenen Bescheid diesem bekannt geben solle. Das ist nicht geschehen. Der Kläger hat in dem Schreiben vom … 1996 zwar darauf hingewiesen, dass er für die Klärung der Ansprüche einen Rechtsanwalt beauftragt habe. Diese allgemein erteilte Vollmacht löste aber für das FA nicht die Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Bescheids an den Bevollmächtigten aus. Sie ließ nicht einmal erkennen, dass der Kläger den Fall des Erlasses eines Bescheids überhaupt in Betracht gezogen hatte, und ergab folglich nichts, geschweige denn Eindeutiges darüber, welche Anordnung er für dessen Bekanntgabe treffen wolle. Bleiben aber, wie im Streitfall, Zweifel, ob eine Vollmacht auch zur Entgegennahme von Bescheiden berechtigt, handelt das FA, wie ausgeführt, nicht ermessensfehlerhaft, wenn es einen Bescheid dem Steuerpflichtigen selbst bekannt gibt.
5. Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Der Senat kann durcherkennen, da die Sache spruchreif ist. Die Klage ist unbegründet und deshalb abzuweisen, weil der Einspruch des Klägers vom 1. November 1996 gegen den angefochtenen Haftungsbescheid vom 10. September 1996 verspätet war.
Fundstellen
Haufe-Index 447364 |
BFH/NV 2001, 222 |
BStBl II 2001, 86 |
BFHE 193, 41 |
BFHE 2001, 41 |
BB 2001, 86 |
DStRE 2001, 208 |
DStZ 2001, 123 |
HFR 2001, 209 |