Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung ausländischer Einkünfte beim Zuzug ins Inland im Wege des Progressionsvorbehalts
Leitsatz (amtlich)
Verzieht ein Arbeitnehmer im Verlauf eines Kalenderjahres vom Ausland ins Inland, so sind seine in diesem Kalenderjahr vor dem Zuzug erzielten Einkünfte im Wege des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen (Bestätigung der Senatsurteile vom 19. Dezember 2001 I R 63/00, BFHE 197, 495, BStBl II 2003, 302, und vom 15. Mai 2002 I R 40/01, BFHE 199, 224, BStBl II 2002, 660).
Normenkette
EStG 1996 § 32b Abs. 1 Nrn. 2-3, Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Sie wohnten im Streitjahr 1996 vom 1. Januar bis zum 31. Oktober ausschließlich in Ungarn und hatten in dieser Zeit in Deutschland keine Einkünfte. Am 1. November 1996 zogen sie nach Deutschland. In Ungarn erzielten sie in dem Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Oktober 1996 Einkünfte in Höhe von 38 550 DM. Der Kläger erzielte in Deutschland im Zeitraum 1. November bis 31. Dezember 1996 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 78 658 DM; die Klägerin hatte keine Einkünfte.
Die Kläger wurden für 1996 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Dabei bezog der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) die ausländischen Einkünfte nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG 1996) zur Bestimmung des Steuersatzes ein und setzte die Einkommensteuer entsprechend fest.
Das Finanzgericht (FG) Hamburg wies die dagegen gerichtete Klage ―dem Senatsurteil vom 19. Dezember 2001 I R 63/00 (BFHE 197, 495, BStBl II 2003, 302) zwar im Ergebnis, in der Begründung allerdings nur eingeschränkt folgend― als unbegründet ab. Sein Urteil vom 12. Februar 2003 V 194/98 ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 857 abgedruckt.
Der Kläger beantragt mit der Revision, das FG-Urteil aufzuheben und die Einkommensteuer 1996 auf 6 518 DM herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet.
1. Die Kläger waren im Streitjahr in der Zeit vor dem 1. November 1996 in Deutschland nicht und seitdem unbeschränkt (§ 1 Abs. 1 EStG 1996) einkommensteuerpflichtig. Der Kläger erzielte in der Zeit der unbeschränkten Steuerpflicht Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 Abs. 1 EStG 1996). Die hierauf zu errechnende und festzusetzende Einkommensteuer bemisst sich nach dem zu versteuernden Einkommen unter Anwendung des Einkommensteuertarifs nach § 32a EStG 1996.
2. Im Hinblick auf die in der Zeit bis zum 1. November 1996 in Ungarn erzielten Einkünfte ist auf das zu versteuernde Einkommen ein besonderer Steuersatz nach Maßgabe des § 32b Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 EStG 1996 anzuwenden.
a) Nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG ist bei der Festsetzung der Einkommensteuer u.a. dann ein besonderer Steuersatz (§ 32b Abs. 2 EStG) anzuwenden, wenn ein zeitweise unbeschränkt Steuerpflichtiger ausländische Einkünfte bezogen hat, die im Veranlagungszeitraum nicht der deutschen Einkommensteuer unterlegen haben. Diese Regelung gilt kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung "nur für Fälle der zeitweisen unbeschränkten Steuerpflicht einschließlich der in § 2 Abs. 7 Satz 3 geregelten Fälle". Wie sich aus dem Wort "einschließlich" ableiten lässt, erfasst sie nicht nur die in § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG geregelte Situation, in der ein Steuerpflichtiger in einem Teil des Kalenderjahres unbeschränkt steuerpflichtig ist und in einem anderen beschränkt steuerpflichtige Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt. Sie greift vielmehr ihrem Wortlaut nach auch dann ein, wenn in einem Teil des Kalenderjahres unbeschränkte Steuerpflicht besteht und im anderen Teil keine in der Bundesrepublik zu besteuernden Einkünfte anfallen; dies gilt auch für den Streitfall. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf das Senatsurteil in BFHE 197, 495, BStBl II 2003, 302, dort unter II.5., Bezug genommen (vgl. auch Senatsurteil vom 15. Mai 2002 I R 40/01, BFHE 199, 224, BStBl II 2002, 660).
b) Wie der Senat in diesem Urteil weiter entschieden hat, verstößt § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG 1996 nicht gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes ―GG― (Art. 3 Abs. 1 GG). Das gilt auch und insbesondere für die Behandlung des ganzjährig und des lediglich zeitweilig im Inland unbeschränkt Steuerpflichtigen. Der Senat hat dazu ausgeführt, dass § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG 1996 insoweit keine Unterschiede macht und auch denjenigen unbeschränkt Steuerpflichtigen erfasst, der nach einem Doppelbesteuerungsabkommen als in beiden Vertragsstaaten ansässig gilt. Die Vorschrift knüpft nicht an das Bestehen oder Nichtbestehen eines Doppelbesteuerungsabkommens oder an dessen Ausgestaltung an, sondern erfasst alle Fälle der unbeschränkten Steuerpflicht. Ein Besteuerungsunterschied kann sich ―im Zusammenhang mit § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 1996― allenfalls daraus ergeben, dass die Anwendung des Progressionsvorbehalts durch ein Doppelbesteuerungsabkommen ausnahmsweise ausgeschlossen wird. Auch insoweit wird auf das zitierte Senatsurteil verwiesen.
3. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest. Die dagegen erhobenen Einwände, denen sich die Vorinstanz zum Teil angeschlossen hat, überzeugen nicht.
a) Das betrifft zunächst den Einwand, das vom Senat vertretene materiell-rechtliche Verständnis des § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 1996 vertrage sich nicht mit dessen Wortlaut. Denn danach unterfielen bei einem unbeschränkt Steuerpflichtigen nur solche Einkünfte dem Progressionsvorbehalt, die nach einem Doppelbesteuerungsabkommen unter dem Vorbehalt der Einbeziehung bei der Berechnung der Einkommensteuer steuerfrei seien; dies erfordere aber, dass das einschlägige Abkommen die Freistellung unter Progressionsvorbehalt positiv anordne. Der Senat setze sich über diese tatbestandliche Einschränkung in § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 1996 "selbstherrlich" (so Vogel, Internationales Steuerrecht ―IStR― 2003, 419 Fn. 12) hinweg (im Ergebnis ebenso Achter, IStR 2003, 203; Sabatschus, IStR 2002, 623, 624).
aa) Der Regelungswortlaut steht dem Regelungsverständnis des Senats jedoch nicht entgegen. Dieses ermöglicht vielmehr ein schlüssiges Ineinandergreifen mit dem gewandelten Verständnis der Doppelbesteuerungsabkommen, die grundsätzlich Steuerbefreiungs- und Steuerermäßigungsvorschriften, nicht aber steuerbegründende oder steuerverschärfende Vorschriften enthalten (vgl. bezogen auf den Progressionsvorbehalt Wassermeyer in Debatin/ Wassermeyer, Doppelbesteuerungsabkommen, Art. 23A MA Rz. 123; FG Köln, Urteil vom 10. Dezember 2002 7 K 1169/99, EFG 2003, 699, IStR 2003, 272, 274). Von daher enthält Art. 23A Abs. 3 OECD-MA ―und im Streitfall Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen, Ertrag und Vermögen― lediglich eine deklaratorische Öffnungsklausel, die den betreffenden Vertragsstaat zu einer entsprechenden nationalen Steuersatzregelung legitimiert. Derartige Regelungen wurden mit § 32b Abs. 1 Nr. 2 und 3 EStG 1996 geschaffen. Sie "sichern" nicht ―so aber das FG― einen im Doppelbesteuerungsabkommen konstitutiv bestimmten Progressionsvorbehalt, sondern sie stellen ihrerseits die hierfür erforderlichen konstitutiven Rechtsgrundlagen dar.
Die Einbeziehung der ausländischen Einkünfte in den besonderen Steuersatz gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 1996 scheidet deswegen nur dann aus, wenn ein Abkommen dies ausdrücklich verbietet. § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 1996 ist im Lichte dieses gewandelten abkommensrechtlichen Verständnisses auszulegen. Er steht einer solchen Auslegung jedenfalls nicht entgegen (vgl. im Einzelnen Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, ebenda; FG Köln, Urteil in EFG 2003, 699, IStR 2003, 272, 274; anders z.B. Achter, IStR 2003, 203; Sabatschus, IStR 2002, 623, 624). Im Übrigen ist der nationale Gesetzgeber ohne abkommensrechtliches Verbot keineswegs generell gehindert, auch solche Einkünfte in die Steuersatzbemessung einzubeziehen, die im Veranlagungszeitraum nicht der deutschen Steuer unterlegen haben. Das gilt auch dann, wenn es an einer unmittelbaren Beziehung zum Inland fehlt (zweifelnd Vogel, IStR 2003, 419, 420).
bb) Dieses Verständnis des Senats ermöglicht im Einklang mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip zugleich eine gleichheitsgerechte und damit verfassungskonforme steuerliche Behandlung ganzjährig unbeschränkt Steuerpflichtiger einerseits und zeitweilig unbeschränkt Steuerpflichtiger andererseits. Der von Achter (IStR 2003, 203, 205) erhobene Einwand, der Senat übersehe bei seiner Argumentation, dass es bei § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG 1996 um die Vergleichbarkeit ganzjährig und zeitweilig unbeschränkter Steuerpflicht im Hinblick auf steuerfreie Einkünfte gehe, führt insoweit nicht weiter. Achter verkennt den bereits erwähnten Umstand, dass § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG 1996 nicht an das Bestehen oder Nichtbestehen eines Doppelbesteuerungsabkommens anknüpft und keinen entsprechenden tatbestandlichen Vorbehalt enthält. Insofern geht es bei der anzustellenden Vergleichsbetrachtung nicht nur um abkommensrechtlich steuerbefreite, sondern um alle Einkünfte des unbeschränkt Steuerpflichtigen im Rahmen von dessen Welteinkommen.
cc) So gesehen bleibt es dabei, dass ein ganzjährig und ein nur zeitweilig unbeschränkt Steuerpflichtiger im Ergebnis gleichbehandelt werden. Bei beiden sind entsprechende Auslandseinkünfte in den Progressionsvorbehalt einzubeziehen. Zu Unterschieden gelangt man nur in dem hier nicht gegebenen Fall, dass ein Doppelbesteuerungsabkommen die Einbeziehung der Einkünfte in den besonderen Steuersatz ausschließt.
b) Das Regelungsverständnis des Senats widerspricht nicht dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 10. März 1971 2 BvL 3/68 (BVerfGE 30, 272, BStBl II 1973, 431) und verletzt nicht die dadurch begründete Bindungswirkung (vgl. § 31 des Gesetzes betreffend das Bundesverfassungsgericht). Dieser Beschluss betraf ausschließlich das Zusatzprotokoll vom 9. Dezember 1957 zum Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern vom 15. Juli 1931 (BGBl II 1959, 183) und dessen rückwirkende Anwendung auf die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958, in welchen im Einkommensteuergesetz eine entsprechende Vorschrift über die Einbeziehung ausländischer Einkünfte in den Progressionsvorbehalt nicht enthalten war. Nur für diesen Fall hat das BVerfG entschieden, dass das im Einzelfall anzuwendende Doppelbesteuerungsabkommen einen Progressionsvorbehalt konstitutiv festlegen müsse, um dem Gesetzesvorbehalt des Art. 20 Abs. 3 GG zu genügen. Zwischenzeitlich wurde eine solche Rechtsgrundlage aber mit § 32b Abs. 1 Nr. 2 und 3 EStG 1996 ―erstmals anzuwenden im Veranlagungszeitraum 1975― in das Einkommensteuergesetz eingefügt (durch das Einkommensteuer-Reformgesetz 1974 vom 5. August 1974, BGBl I 1974, 1769, BStBl I 1974, 530), so dass es einer (zusätzlichen) Rechtsgrundlage im Abkommen selbst nicht mehr bedarf (ebenso Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, a.a.O., Art. 23A MA Rz. 123; derselbe, IStR 2003, 421; FG Köln, Urteil in EFG 2003, 699, IStR 2003, 272, 273; s. auch Mössner, Recht der Internationalen Wirtschaft 2003, 294, 295; anders Vogel, IStR 2003, 419).
Fundstellen
Haufe-Index 1084030 |
BFH/NV 2004, 275 |
BStBl II 2004, 549 |
BFHE 2004, 155 |
BFHE 204, 155 |
BB 2004, 91 |
DB 2004, 578 |
DStRE 2004, 140 |
HFR 2004, 227 |