Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenversicherung. Beitrag. Nachzahlung. Ersatzzeit. Pflichtbeitragszeit. Strafhaft. Inhaftierung. DDR. SED-Unrecht. Kassation. Entschädigung
Leitsatz (amtlich)
Nach § 205 SGB VI ist nicht zur Nachzahlung von Beiträgen für Zeiten des Freiheitsentzuges berechtigt, wer in der DDR inhaftiert war und später nach den Regeln über die Behandlung von SED-Unrecht rehabilitiert und entschädigt worden ist.
Normenkette
SGB VI §§ 205, 250 Abs. 1 Nr. 5a; StrEG §§ 1, 16a; SED-UnBerG 2 Art. 2; BerRehaG §§ 11-16; StPO DDR § 369
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 15.03.1996; Aktenzeichen L 14 An 42/95) |
SG Köln (Entscheidung vom 09.08.1994; Aktenzeichen S 2 An 81/92) |
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision Prozeßkostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 1996 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger macht das Recht geltend, freiwillige Beiträge für Zeiten nachzuentrichten, während derer er in der DDR inhaftiert war.
Aufgrund von Urteilen des Bezirksgerichts Rostock vom 10. Juli 1978 bzw des Kreisgerichts Karl-Marx-Stadt/West vom 17. August 1981 war der Kläger in der Zeit vom 16. Februar 1978 bis 20. November 1979, vom 12. April 1981 bis 24. April 1981 sowie 5. Juni 1981 bis 16. September 1982 in der DDR inhaftiert. Die Urteile sind in Kassationsverfahren durch das Bezirksgericht Neubrandenburg (Beschluß vom 9. Juli 1991) und das Bezirksgericht Dresden (Beschluß vom 8. März 1991) aufgehoben worden. Der Kläger wurde freigesprochen und für die Zeiten des Vollzugs der Freiheitsstrafe eine Entschädigungspflicht dem Grunde nach gemäß § 369 der Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik (StPO/DDR) bzw aus § 369 StPO/DDR iVm § 16a des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) festgestellt. Die Zeiten der Inhaftierung sind von der Beklagten als Ersatzzeiten (§ 28 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes bzw nunmehr § 250 Abs 1 Nr 5a des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Rentenversicherung ≪SGB VI≫) anerkannt worden. Den Antrag des Klägers, für die Zeiten der Inhaftierung Beiträge nach § 205 SGB VI nachzuentrichten, lehnte die Beklagte ab. Dem Kläger sei keine Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen nach dem StrEG zugesprochen worden. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
Er hält es für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob Versicherte, die in der ehemaligen DDR zu Unrecht verurteilt und inhaftiert worden waren und deren Verurteilung vor dem Inkrafttreten des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes vom 29. Oktober 1992 (BGBl I S 1814 – 1. SED-UnBerG) aufgehoben worden ist, für die Zeiten ihrer Inhaftierung freiwillige Beiträge nachzahlen können. Der Kläger meint, durch die Beschlüsse der Bezirksgerichte Neubrandenburg und Dresden sei rechtskräftig festgestellt worden, er habe dem Grunde nach einen Anspruch auf Entschädigung für die Zeiten des Vollzugs der Freiheitsstrafen. Gerichte hätten somit über die Verpflichtung zur Entschädigung gemäß § 8 StrEG entschieden, der auch im Falle des § 16a StrEG anzuwenden sei. Falls nach dem Gesetz ein Anspruch auf Nachzahlung von Beiträgen ausgeschlossen sei, sei dadurch Art 3 des Grundgesetzes (GG) verletzt. Ein Versicherter, der in der alten Bundesrepublik zu Unrecht verurteilt worden sei, habe bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen (Aufhebung des Urteils im Wiederaufnahmeverfahren, Feststellung der Entschädigungspflicht des Staates und Rechtzeitigkeit des Antrages) ohne weiteres einen Anspruch auf Nachzahlung freiwilliger Beiträge für die Zeiten zu Unrecht erfolgter Inhaftierung. Ein Ausschluß der Versicherten, die in der ehemaligen DDR zu Unrecht verurteilt worden seien, von dem Recht auf Nachzahlung freiwilliger Beiträge für die Zeiten ihrer Inhaftierung stelle eine ungerechtfertigte Benachteiligung dar. Die Tatsache, daß die Beklagte die Zeiten der Inhaftierung als Ersatzzeiten anerkannt habe, stehe dem geltend gemachten Recht nicht entgegen.
Die Beschwerde ist unbegründet. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) besteht nur, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage zweifelhaft ist. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben. Es ist nicht zweifelhaft, daß das Recht zur Nachzahlung freiwilliger Beiträge nach § 205 SGB VI Versicherten wie dem Kläger nicht zusteht, deren strafgerichtliche Verurteilung in der DDR aufgrund eines nach der Wiedervereinigung ergangenen Kassationsbeschlusses aufgehoben und denen Entschädigung für die Zeit des Vollzugs der Freiheitsstrafe zugesprochen worden ist. Nach § 205 Abs 1 SGB VI können Versicherte, für die ein Anspruch auf Entschädigung für Zeiten von Strafverfolgungsmaßnahmen nach dem StrEG rechtskräftig festgestellt ist, auf Antrag freiwillige Beiträge für diese Zeiten nachzahlen. Das StrEG sieht in § 1 eine Entschädigung für den vor, der durch eine strafgerichtliche Verurteilung einen Schaden erlitten hat, soweit die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren oder sonst, nachdem sie rechtskräftig geworden ist, in einem Strafverfahren fortfällt oder gemildert wird. Hinsichtlich der Verurteilungen in der DDR ordnet § 16a Satz 1 StrEG (eingefügt durch Anl 1 Kap III Sachgebiet C Abschn II Nr 4 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 iVm Art 1 des Gesetzes vom 23. September 1990 – BGBl II 885) an, daß die §§ 1 und 2 StrEG keine Anwendung auf die Folgen einer strafgerichtlichen Verurteilung, einer Maßregel oder Nebenfolge oder einer freiheitsentziehenden oder anderen vorläufigen Strafverfolgungsmaßnahme finden, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der DDR erfolgte oder angeordnet wurde. Die in § 1 StrEG vorgesehene Entschädigung für Folgen einer strafgerichtlichen Verurteilung, die in einem Wiederaufnahmeverfahren fortgefallen ist, ist damit durch § 16a StrEG für Verurteilungen in der DDR ausdrücklich ausgeschlossen. Die Sätze 2 und 3 des § 16a StrEG verweisen auf andere Entschädigungsregelungen als die des § 1 StrEG. Satz 2 des § 16a StrEG sah zunächst vor, daß Voraussetzung, Art und Höhe der Entschädigung für diese Folgen sich nach den bis zu diesem Zeitpunkt in der DDR geltenden Vorschriften über die Entschädigung für Untersuchungshaft und Strafe mit Freiheitsentzug (§§ 369 ff der StPO/DDR) richteten. Bei Kassation überstieg die Leistung nicht den für den Fall einer strafrechtlichen Rehabilitierung vorgesehenen Umfang (Satz 3). Durch Art 8 1. SED-UnBerG sind die Sätze 2 und 3 des § 16a StrEG neu gefaßt worden. Nunmehr richten sich die Voraussetzungen der Entschädigung für diese Folgen nach dem bis zu diesem Zeitpunkt in der DDR geltenden Vorschriften über die Entschädigung für Untersuchungshaft und Strafen mit Freiheitsentzug (§§ 369 ff StPO/DDR), soweit nicht eine Rehabilitierung nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) erfolgt oder ein Kassationsverfahren nach den vom 3. Oktober 1990 bis zum Inkrafttreten des StrRehaG geltenden Vorschriften abgeschlossen ist. Für Art und Höhe der Entschädigung gelten die Vorschriften des StrRehaG entsprechend. Das StrRehaG ist als Art 1 des 1. SED-UnBerG ergangen und hat das Rehabilitierungsgesetz (RehaG/DDR) der DDR vom 6. September 1990 (GBl I S 1459) ersetzt. Bei Kassation eines Urteils iS von § 16a Satz 2 und 3 StrEG kann nur eine Entschädigung nach den §§ 369 ff StPO/DDR zugesprochen werden. Eine Entschädigung, deren Voraussetzungen, Art und Höhe sich nach der StPO/DDR richten, ist keine Entschädigung nach dem StrEG. Das ist nicht zweifelhaft.
Soweit § 205 Abs 1 SGB VI die Nachzahlung von Beiträgen nur für den Fall vorsieht, daß ein Anspruch auf Entschädigung für Zeiten von Strafverfolgungsmaßnahmen nach dem StrEG rechtskräftig festgestellt ist, ist auch keine erweiternde Auslegung dahingehend möglich, daß darunter auch Entschädigungen nach den §§ 369 ff der StPO/DDR, dem RehaG/DDR oder eine Entschädigung nach dem StrRehaG zu verstehen sind. Auch dies ist nicht zweifelhaft. Es ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschriften. § 205 SGB VI war mit im wesentlichen demselben Inhalt bereits in den Entwürfen eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (RRG 1992) vorgesehen (§ 200 der Gesetzentwürfe BT-Drucks 11/4124 und 11/4452). Bei Einbringung der Gesetzentwürfe wie auch bei Verabschiedung des Gesetzes Ende 1989 war an eine Einbeziehung von Entschädigungen nach dem § 369 StPO/DDR nicht zu denken. Die spätere Rechtsentwicklung zeigt, daß der Gesetzgeber stets davon ausgegangen ist, daß die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen der DDR einer Sonderregelung bedarf, soweit diese Strafverfolgungsmaßnahmen durch Kassation oder durch strafrechtliche Rehabilitierung aufgehoben worden sind. Vor Inkrafttreten des SGB VI ist durch das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1606) in § 250 Abs 1 SGB VI die Nr 5a eingefügt worden. Danach sind Ersatzzeiten auch Zeiten im Beitrittsgebiet, in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 30. Juni 1990 in der Versicherte einen Freiheitsentzug erlitten haben, soweit eine auf Rehabilitierung oder Kassation erkennende Entscheidung ergangen ist, oder im Anschluß an solche Zeiten wegen Krankheit arbeitsunfähig oder unverschuldet arbeitslos gewesen sind. Weder in der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucks 12/405 S 125) noch in der Stellungnahme des Bundesrats zu dieser Vorschrift (BT-Drucks 12/630 Anl 2 S 10) noch in der Begründung zur Beschlußempfehlung des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drucks 12/786 S 16/17), der die Gesetz gewordene Fassung der Vorschrift vorschlug, wird erwogen oder erörtert, daß neben der Einräumung einer Ersatzzeit diese Versicherten auch noch das Recht haben sollten, Beiträge nach § 205 SGB VI nachzuzahlen. Im Beruflichen Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG), das als Art 2 des Zweiten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht (2. SED-UnBerG) vom 23. Juli 1994 (BGBl I S 1311) ergangen ist, ist für Verfolgungszeiten, zu denen auch Zeiten der Inhaftierung gehören, rentenrechtlich eine besondere Regelung in dessen §§ 11 bis 16 vorgesehen. Diese Vorschriften sehen eine differenzierte Anrechnung von Pflichtbeitragszeiten vor. Der Zeitraum einer zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung oder eines Gewahrsams ist Verfolgungszeit nach § 2 BerRehaG, die beim Ausgleich von Nachteilen in der Rentenversicherung zu berücksichtigen ist, weil die betroffenen Opfer nicht ausschließlich auf die bestehenden Ersatzzeitenregelungen (§ 250 Abs 1 Nr 5 und 5a SGB VI) verwiesen werden sollten (vgl BT-Drucks 12/4994 Begründung zu Art 2 § 2 Nr 2). Die differenzierte Regelung der Anrechnung von Pflichtbeitragszeiten in den §§ 11 ff des BerRehaG und die Begründung lassen erkennen, daß der Gesetzgeber mit der Ersatzzeitenregelung und den Vorschriften des BerRehaG eine abschließende Regelung der rentenrechtlichen Entschädigung für zu Unrecht erlittenen Freiheitsentzug in der DDR treffen wollte.
Soweit durch § 205 SGB VI einerseits sowie § 250 Abs 1 Nr 5a SGB VI und das BerRehaG andererseits die Folgen von nach Wiederaufnahmeverfahren fortgefallenen Freiheitsentziehungen bzw nach in Kassationsverfahren oder in Rehabilitierungsverfahren aufgehobenen strafrechtlichen Urteilen der DDR unterschiedlich behandelt werden, liegt auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 GG) vor. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, bei der Beseitigung der Folgen des SED-Unrechts die Wiedergutmachung für die Folgen freiheitsentziehender Maßnahmen in der Weise zu regeln, wie er dies für die aufgrund eines Wiederaufnahmeverfahrens fortgefallene Freiheitsentziehung im StrEG vorgesehen hat. Das eine ist die Abwicklung von Unrecht der DDR, das andere ist die Wiedergutmachung für fehlerhaftes staatliches Verhalten in der alten Bundesrepublik oder der Bundesrepublik nach Herstellung der Einheit. Ob angesichts der Ersatzzeitenregelung und der im BerRehaG vorgesehenen Anrechnung von Pflichtbeitragszeiten die Betroffenen nicht eine günstigere Entschädigung im Rentenrecht erhalten, als sie das Recht zur Nachzahlung von Beiträgen nach § 205 SGB VI darstellt, kann dabei dahingestellt bleiben.
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe war abzulehnen, denn die Kosten der Rechtsverfolgung werden durch seine Rechtsschutzversicherung getragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 955634 |
Breith. 1997, 696 |
SozSi 1997, 239 |