Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. Geltungsbereich. Begriff ‚Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit’. Bewerbung um eine Stelle zur Erlangung des formalen Status als Bewerber mit dem alleinigen Ziel, einen Entschädigungsanspruch wegen Diskriminierung geltend zu machen. Rechtsmissbrauch
Normenkette
Richtlinie 2000/78/EG Art. 3 Abs. 1 Buchst. a; Richtlinie 2006/54/EG Art. 14 Abs. 1 Buchst. a
Beteiligte
R+V Allgemeine Versicherung AG |
Tenor
Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sind dahin auszulegen, dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, nicht unter den Begriff „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit” im Sinne dieser Bestimmungen fällt und, wenn die nach Unionsrecht erforderlichen Tatbestandsmerkmale vorliegen, als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2015, in dem Verfahren
Nils-Johannes Kratzer
gegen
R+V Allgemeine Versicherung AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Arabadjiev, J.-C. Bonichot, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Kratzer, vertreten durch sich selbst,
- der R+V Allgemeine Versicherung AG, vertreten durch Rechtsanwalt B. Göpfert,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und A. Lippstreu als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt als Bevollmächtigten im Beistand von K. Apps, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) und von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23).
Rz. 2
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Nils-Johannes Kratzer und der R+V Allgemeine Versicherung AG (im Folgenden: R+V) über Ansprüche auf Entschädigung, materiellen Schadensersatz und Unterlassung, die Herr Kratzer geltend macht, weil er meint, R+V habe ihn wegen seines Alters und seines Geschlechts diskriminiert, als sie seine Bewerbung um eine ausgeschriebene Stelle abgelehnt habe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2000/78
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.”
Rz. 4
In Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:
„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf
- die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position einschließlich des beruflichen Aufstiegs;
…”
Rz. 5
Art. 17 der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnah...