Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im arbeitnehmerseitig gekündigten Arbeitsverhältnis
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist regelmäßig erschüttert, wenn ein Arbeitnehmer unmittelbar nach einer Eigen- oder Arbeitgeberkündigung Bescheinigungen einreicht, die passgensu die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecken. 2. Ist der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert, hat der Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden.
Normenkette
EFZG § 3 Abs. 1 S. 1, § 4 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Rostock (Entscheidung vom 05.06.2023; Aktenzeichen 2 Ca 1525/22) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Rostock vom 05.06.2023 - 2 Ca 1525/22 - abgeändert: Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im arbeitnehmerseitig gekündigten Arbeitsverhältnis.
Der im Februar 2000 geborene Kläger nahm am 01.09.2020 bei der Beklagten, die Wurst- und Schinkenprodukte herstellt, eine Beschäftigung als Fleischer auf. Zum 01.09.2021 übertrug die Beklagte dem Kläger die Position des stellvertretenden Abteilungsleiters der Pökelei. Das monatliche Gehalt belief sich zuletzt auf € 2.216,46 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. Der Kläger war im Schichtdienst eingesetzt. Die Beklagte beschäftigt etwa 180 Arbeitnehmer/innen.
Laut ärztlichen Bescheinigungen war der Kläger in der Zeit von Oktober 2022 bis Anfang Dezember 2022 wie folgt arbeitsunfähig erkrankt:
Montag, |
10.10.2022 |
bis |
Freitag, |
14.10.2022 |
Montag, |
17.10.2022 |
bis |
Freitag, |
21.10.2022 |
Dienstag, |
25.10.2022 |
bis |
Freitag, |
28.10.2022 |
Mittwoch, |
23.11.2022 |
bis |
Samstag, |
26.11.2022 |
Montag, |
28.11.2022 |
bis |
Freitag, |
02.12.2022 |
Montag, |
05.12.2022 |
bis |
Freitag, |
09.12.2022. |
Mit Schreiben vom 09.12.2022 kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 15.01.2023. Das Kündigungsschreiben übergab er dem Betriebsleiter am Montag, 12.12.2022. Am Dienstag, 13.12.2022, suchte der Kläger einen Praktischen Arzt auf, der ihm eine Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich 06.01.2023 mit den Diagnosen F43.2 G (Anpassungsstörungen) und F45.9 G (Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet) bescheinigte. Der Arzt verschrieb die Medikamente: "VENLAFAXIN HEU 37.5MG HART 42,43mgREK" und "50St N2 Mirtazepin 15 mg abends 1 Tbl." Zudem stellte er eine Überweisung an einen Psychiater aus und erbat eine fachärztliche Mitbehandlung. Der Kläger beschaffte sich weder die verschriebenen Medikamente noch suchte er einen Facharzt auf.
Am Montag, 02.01.2023, begab sich der Kläger erneut zu dem Praktischen Arzt, der eine Folgebescheinigung für weitere zwei Wochen bis zum 16.01.2023 ausstellte. Am Montag, 16.01.2023, trat der Kläger eine neue Beschäftigung im Lebensmitteleinzelhandel an.
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass ihm Entgeltfortzahlung für die Zeit ab 13.12.2022 zustehe. Die Arbeit in der Pökelei sei körperlich schwer und zudem im Schichtdienst zu leisten. Er müsse täglich rund 100 Rollwagen mit einem Gewicht von ca. 200 kg aus eigener Kraft bewegen. In den letzten drei Monaten vor Ausspruch der Kündigung habe er annähernd 20 % seines Körpergewichts verloren. Er habe an Schlafstörungen, Magenbeschwerden, Schwindel und Atembeschwerden gelitten. Das sei auch der Grund, weshalb er das Arbeitsverhältnis gekündigt habe. Im Zeitraum Oktober 2022 bis Anfang Dezember 2022 sei er aus folgenden Gründen arbeitsunfähig gewesen:
10.10.2022 |
bis |
14.10.2022 |
Magenprobleme |
A09.0 G |
17.10.2022 |
bis |
21.10.2022 |
Atemprobleme/Atemwegsinfektion |
J06.9 G |
25.10.2022 |
bis |
28.10.2022 |
Kniegelenk verrutscht |
M22.1 GL |
23.11.2022 |
bis |
26.11.2022 |
Magenprobleme |
A09.0 G |
28.11.2022 |
bis |
02.12.2022 |
Magenprobleme |
A09.0 G |
05.12.2022 |
bis |
09.12.2022 |
Kniegelenk verrutscht |
M22.1 GL. |
Einen Facharzt habe er nicht aufgesucht, da es schlichtweg nicht möglich gewesen sei, bei einem Psychologen einen zeitnahen Termin zu bekommen. Die verschriebenen Medikamente habe er nicht genommen, da ihm der Arzt empfohlen habe, es erst einmal mit Ruhe zu versuchen.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger [für den Monat Dezember 2022] € 2.414,42 brutto abzüglich des bereits gezahlten Lohnes in Höhe von € 883,78 netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.12.2022 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie bestreitet, dass der Kläger arbeitsunfähig gewesen sei. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert, da es sich "passgenau" um den Zeitraum der Kündigungsfrist handele. Bei Übergabe des Kündigungsschreibens am 12.12.2022 habe ...