Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers
Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Ein Arbeitnehmer hat für die Zeit einer Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit bis zur Dauer von sechs Wochen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EFZF). Für das Vorliegen einer entsprechenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist grundsätzlich der jeweilige Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig.
Rechtliche Bedeutung der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit
Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wurde in der Vergangenheit in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG durch den Arbeitnehmer beim Arbeitgeber geführt. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kam dabei ein hoher Beweiswert zu. Der Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit wurde normaler Weise als erbracht angesehen, wenn der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegte (vgl. BAG, Urteil v. 08.09.2021 – 5 AZR 149/21).
Gesetzliche Neuerungen beim Nachweis der Arbeitsunfähigkeit
Seit dem 01.01.2023 ist im Rahmen der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (eAU-Verfahren) allerdings die Vorlagepflicht einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an den Arbeitgeber für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer entfallen (Ausnahmen: geringfügig Beschäftigte in Privathaushalten und soweit die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt festgestellt wurde, der nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt). Diese müssen nur noch die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen und sich selbst eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aushändigen lassen (§ 5 Abs. 1a EFZG). Der Arbeitnehmer bleibt jedoch verpflichtet, sich bei seinem Arbeitgeber unverzüglich arbeitsunfähig zu melden und die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen. Auch bei dieser geänderten Verfahrensweise können arbeitgeberseitig naturgemäß Zweifel an dem tatsächlichen Vorliegen der vom Arbeitnehmer mitgeteilten Arbeitsunfähigkeit entstehen.
Wenn der Arbeitgeber Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit hat
Will der Arbeitgeber seine Zweifel an der mitgeteilten Arbeitsunfähigkeit geltend machen, muss er zwar nicht den Beweis der Arbeitsfähigkeit erbringen. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der festgestellten Arbeitsunfähigkeit jedoch nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich dabei auch aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers oder aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben.
Nach der Rechtsprechung des BAG kann etwa dann, wenn ein Arbeitnehmer, der sein Arbeitsverhältnis kündigt und am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben wird, dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst (BAG, Urteil v. 08.09.2021 – 5 AZR 149/21).
Beweis der Arbeitsunfähigkeit nach Erschütterung des Beweiswertes
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Feststellung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bzw. Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen oder im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag etwa dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Soweit er sich für die Behauptung, auf Grund dieser Einschränkungen arbeitsunfähig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbindet (BAG, Urteil v. 08.09.2021 – 5 AZR 149/21).
Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse
Die gesetzlichen Krankenkassen können zur Beseitigung von Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit verpflichtet sein, eine gutachtliche Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst einzuholen (§ 275 Abs. 1 Nr. 3 SGB V).
Der Arbeitgeber selbst kann verlangen, dass die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit einholt (§ 275 Abs. 1a Satz 3 SGB V). Er hat mithin gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen einen entsprechenden Anspruch. Eine nähere Begründung der Zweifel des Arbeitgebers ist indes nicht erforderlich, jedoch sicherlich hilfreich.
Die Krankenkasse kann von einer Beauftragung des Medizinischen Dienstes im weiteren Verlauf absehen, wenn sich die medizinischen Voraussetzungen der Arbeitsunfähigkeit eindeutig aus den der Krankenkasse vorliegenden ärztlichen Untersuchungen ergeben (§ 275 Abs. 1a Satz 4 SGB V).
Bei privat Krankenversicherten ist die Einschaltung des Medizinischen Dienstes der gesetzlichen Krankenkassen mangels Mitgliedschaft naturgemäß nicht möglich.
Hinweise, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit wecken können
Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit sind nach der gesetzlichen Regelung des § 275 Abs. 1a SGB V insbesondere in Fällen anzunehmen, in denen
- Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind,
- der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder
- die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Die gesetzliche Aufzählung ist indes nicht abschließend. Auch anderweitige Zweifel können geeignet sein, die Prüfung durch den Medizinischen Dienst in Gang zu setzen, wie etwa Hinweise, die sich
- aus der Bescheinigung selbst ergeben (z. B. unzulässige rückwirkende Bescheinigung oder Dauerbescheinigung),
- aus den tatsächlichen Umständen (z. B. regelmäßige Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit zum Ende des Urlaubs) oder
- aus dem Verhalten des Arbeitnehmers (z. B. nach vorheriger Ankündigung der Arbeitsunfähigkeit, nach innerbetrieblichen Differenzen oder nach Ausspruch einer Kündigung).
Hilfreiche Hinweise können sich dabei ggf. auch aus den Vorgaben der jeweils geltenden Richtlinien über die Zusammenarbeit der Krankenkassen mit den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung ergebenden.
Prüfung und Information über das Ergebnis durch die Krankenkasse
Die Prüfung durch die Krankenkasse hat unverzüglich nach Vorlage der ärztlichen Feststellung über die Arbeitsunfähigkeit zu erfolgen (§ 275 Abs. 1a Satz 2 SGB V). Sie findet insbesondere nicht etwa erst dann statt, wenn die Krankenkasse Krankengeld zu leisten hat.
Der Medizinische Dienst teilt das Ergebnis seiner Begutachtung der Krankenkasse und dem behandelnden Arzt mit. Solange noch ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht, erhält der Arbeitgeber – durch die Krankenkasse (§ 277 Abs. 2 SGB V) – eine Information über das Ergebnis der Begutachtung, wenn vom Ergebnis des behandelnden Arztes abgewichen wird. Die Mitteilung darf jedoch keine Angaben über die Krankheit des Versicherten enthalten.
Einschaltung des Betriebsarztes
Betriebsärzte haben die Aufgabe, den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen und dabei insbesondere auch die Arbeitnehmer zu untersuchen, arbeitsmedizinisch zu beurteilen und zu beraten sowie die Untersuchungsergebnisse zu erfassen und auszuwerten (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG). Zu den Aufgaben der Betriebsärzte gehört es indes nicht, Krankmeldungen der Arbeitnehmer auf ihre Berechtigung zu überprüfen (§ 3 Abs. 3 ASiG).
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