Entscheidungsstichwort (Thema)
Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. "Postwendende" Arbeitsunfähigkeit nach Erhalt der Kündigung. Darlegungs- und Beweislast des Arbeitnehmers nach Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Kausalzusammenhang zwischen Erkrankung und Erhalt des Kündigungsschreibens. Beendigung der Arbeitsunfähigkeit und Aufnahme der Arbeit bei einem anderen Arbeitgeber
Leitsatz (amtlich)
1. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann grds. auch dadurch erschüttert werden, dass der Arbeitnehmer sich im Falle des Erhalts einer arbeitgeberseitigen Kündigung unmittelbar zeitlich nachfolgend - "postwendend" - krank meldet bzw. eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht. Das gilt insbesondere dann, wenn lückenlos der gesamte Zeitraum der Kündigungsfrist - auch durch mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen - abgedeckt wird.
2. Meldet sich zunächst der Arbeitnehmer krank und erhält er erst sodann eine arbeitgeberseitige Kündigung, fehlt es an dem für die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung notwendigen Kausalzusammenhang.
3. Allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben ist, am unmittelbar darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt, erschüttert in der Regel ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht.
Leitsatz (redaktionell)
1. Einer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu, den der Arbeitgeber nur erschüttern kann, wenn er begründete Zweifel an der Richtigkeit der ausgestellten Bescheinigung darlegen und im Bestreitensfall beweisen kann.
2. Gelingt dem Arbeitgeber die Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ist es Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hier ist ein substantiierter Vortrag dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden.
Normenkette
EFZG §§ 3, 5 Abs. 1 S. 2, § 7 Abs. 1 Nr. 1; SGB V § 275 Abs. 1a
Verfahrensgang
ArbG Hildesheim (Entscheidung vom 26.10.2022; Aktenzeichen 2 Ca 190/22) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 26.10.2022 - 2 Ca 190/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im beendeten Arbeitsverhältnis über Entgeltfortzahlungsansprüche.
Der am 00.00.1997 geborene Kläger war bei der Beklagten, einer Zeitarbeitsfirma, seit dem 16.03.2021 als Helfer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden und einem Stundenlohn von 10,88 Euro beschäftigt. Arbeitsvertraglich war sein Entgelt spätestens bis zum 15. Bankarbeitstag des Folgemonats fällig.
Die Beklagte setzte den Kläger seit dem 21.04.2022 nicht mehr ein.
Der Kläger legte der Beklagten am 02.05.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seines behandelnden Arztes vom 02.05.2022 für den Zeitraum ab dem 02.05.2022 bis 06.05.2022 vor (Bl. 9 d.A.). (Jedenfalls) die zur Gerichtsakte gelangte Bescheinigung weist eine Diagnose nach Diagnoseschlüssel aus, dies ist der ICD-10-Code J 06.9.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 02.05.2022, dem Kläger zugegangen am 03.05.2022, ordentlich zum 31.05.2022 (Bl. 5 d.A.).
Durch Folgebescheinigung vom 06.05.2022 (ICD-10-Code ebenfalls J 06.9) wurde eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 20.05.2022 festgestellt, durch weitere Folgebescheinigung vom 20.05.2022 eine bis zum 31.05.2022 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit (ICD-10-Code weiterhin J 06.9 und zusätzlich erstmalig R 45.7) (Bl. 9 und 10 d.A.).
Mit Schreiben vom 23.05.2022 (Bl. 4 d.A.) teilte die Beklagte dem Kläger mit, er habe sich am 2.5.2022 krank gemeldet, "gleichzeitig" habe sie ihm die Kündigung zum 31.05.2022 ausgesprochen. Daraufhin habe er Folgebescheinigungen eingereicht, die die Zeit bis zum 31.05.2022 umfassten. Damit bestehe eine Koinzidenz zwischen der Kündigung und der ab dem 2.5. bis zum 31.5.2022 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit, die ernsthafte Zweifel begründe.
Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht seine Auffassung vorgetragen, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei nicht erschüttert. Er habe sich zunächst krankgemeldet, erst daraufhin habe die Beklagte ihm die Kündigung ausgesprochen. Die vom Bundesarbeitsgericht für die Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angeführte zeitliche Koinzidenz setze - wolle man sie auch auf Arbeitgeberkündigungen anwenden - voraus, dass zunächst der Zugang einer Kündigung geschehe und erst im Anschluss hieran eine Krankmeldung bzw. die Einreichung einer Arbeitsunfähigkeits...