Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung der anteiligen Monatsbruttovergütung wegen der tatsächlich erbrachten geschuldeten Arbeitsleistung des Arbeitnehmers
Leitsatz (redaktionell)
1. Zwar kann der Arbeitgeber unbeschadet der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 297 BGB trotz einer unstreitigen Freistellung des Arbeitnehmers nicht in Annahmeverzug kommen, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt außerstande ist, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Der Arbeitnehmer kann sich jedoch den Vortrag des Arbeitgebers, er sei tatsächlich nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen, hilfsweise zu eigen machen, sodass in Hinblick auf die begehrte Zahlung von Vergütung diese beiden Parteivorträge gleichwertig sind. Danach steht dem Arbeitnehmer der Anspruch auf Zahlung, wenn er tatsächlich krank war, als Entgeltfortzahlung, wenn er tatsächlich arbeitsfähig war, unter Annahmeverzugsgesichtspunkten zu.
2. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG kann nach den Umständen des Einzelfalls auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeit-Richtlinie (AURL) erschüttert sein. So kann es sich etwa verhalten, wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - wie hier - entgegen § 4 Abs. 5 AURL nicht nach unmittelbar persönlicher Untersuchung des Arbeitnehmers und auch nicht mittelbar persönlich im Wege einer Videosprechstunde, sondern allein auf einen telefonischen Kontakt hin ausgestellt worden ist und die Sonderregelungen im Zusammenhang mit der COVID-19 - Epidemie nach § 8 AURLnicht mehr galten. Gleiches gilt, soweit entgegen § 5 Abs. 5 AURL eine voraussichtliche zukünftige Krankheitsdauer für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen bescheinigt wurde, ohne dass dies aufgrund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufes gemäß § 5 Abs. 4 Satz 2 AURL sachgerechtgewesen sein könnte.
Normenkette
BGB § 611a Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Hannover (Entscheidung vom 10.05.2023; Aktenzeichen 11 Ca 24/23) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts vom 10.05.2023 - 11 Ca 24/23 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.013,00 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.01.2023 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits haben die Parteien je zur Hälfte zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Entgeltansprüche der Klägerin für den Monat Dezember 2022.
Die Klägerin war bis zum 15.01.2023 auf Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 31.03.2021 (vgl. Blatt 6 bis 9 der Akte) bei der Beklagten in Teilzeit als kaufmännische Angestellte tätig. Die vereinbarten Arbeitstage waren montags bis mittwochs. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund der ordentlichen Kündigung der Beklagten vom 15.12.2022 mit Ablauf des 15.01.2023.
Auch der Lebensgefährte der Klägerin stand in einem Arbeitsverhältnis zur Beklagten. Dieses hatte er mit Schreiben vom 05.12.2022 zum 31.01.2023 gekündigt. Nachdem er zunächst bis zum 07.12.2022 seinen vertraglichen Arbeitsverpflichtungen nachgekommen war, hat er der Beklagten anschließend für den Restmonat Dezember verschiedene Erst- und Folgebescheinigung in Hinblick auf eine bei ihm bestehende Arbeitsunfähigkeit vorgelegt. In einem vom Lebensgefährten der Klägerin angestrengten gerichtlichen Verfahren vor dem Arbeitsgericht zum Aktenzeichen 11 Ca 25/23 wies das Arbeitsgericht den von diesem geltend gemachten Entgeltfortzahlungsanspruch für den Zeitraum vom 8. bis 31.12.2022 nach Vernehmung der Ärztin Frau Dr. G. und des Arztes Dr. R. ab (siehe Blatt 144 bis 149 der Akte).
Bis zum 07.12.2022 hat auch die Klägerin ihre Arbeitsleistung für die Beklagte tatsächlich erbracht.
Am Sonntag, den 12.12.2022, schrieb die Klägerin dem Geschäftsführer der Beklagten um 11: 17 Uhr per WhatsApp, dass sie "morgen definitiv raus" sei, Kopf und Gliederschmerzen sowie "ganz schlimme" Krämpfe habe. Der Geschäftsführer der Beklagten erklärte daraufhin, er werde verschiedene Gegenstände, unter anderem den Dienstwagen des Lebensgefährten der Klägerin, noch am selben Tag von deren gemeinsamer Wohnung abholen. Zudem schrieb er der Klägerin am 12.12.2022 um 12: 19 Uhr unter anderem: "ich möchte keine Kommentare ich möchte alles abholen. Dann plane ich euch jetzt aus bei der Weihnachtsfeier. Ich möchte die Woche keinen mehr sehen. Ich melde mich dann die Woche wie wir weitermachen ich brauche Zuverlässigkeit gerade im Moment und nach Weihnachten. Danke". Wegen der weiteren Einzelheiten des WhatsApp-Chatverlaufs wird auf Blatt 54 der Akte verwiesen.
Die Klägerin reichte bei der Beklagten anschließend zunächst eine von der Ärztin Frau L. aus der Praxisgemeinschaft am 12.12.2022 aufgrund eines Telefongesprächs ausgestellte Erstbescheinigung über ihre Arbeitsunfähigkeit vom 12.12.2022 bis ...