Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung eines Ersatzmitglieds des Betriebsrats im Nachwirkungszeitraum. Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Umfassende Interessenabwägung bei einer fristlosen Kündigung. Freie Beweiswürdigung im Zivilprozess. "Non-liquet-Situation" nach der Beweisaufnahme
Leitsatz (redaktionell)
1. Steht einem Ersatzmitglied des Betriebsrats zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung nur der nachwirkende Kündigungsschutz des § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG zu, bedarf es zu dieser Kündigung keiner Zustimmung des Betriebsrats.
2. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.
3. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.
4. Nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO haben die Tatsacheninstanzen unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer gegebenenfalls durchgeführten Beweisaufnahme nach ihrer freien Überzeugung darüber zu befinden, ob sie eine tatsächliche Behauptung für wahr erachten oder nicht. Die Beweiswürdigung muss vollständig, widerspruchsfrei und umfassend sein. Mögliche Zweifel müssen überwunden, aber nicht völlig ausgeschlossen sein.
5. Verbleiben nach durchgeführter Beweisaufnahme nicht lediglich einige unüberwindbare Restzweifel, sondern ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Vortrag einer Partei zutrifft, genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass dies nicht der Fall ist, liegt eine "non-liquet-Situation" vor. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung wird dadurch weder eingeschränkt noch in eine bestimmte Richtung gelenkt.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 15 Abs. 1 Sätze 1-2; ZPO § 286 Abs. 1 S. 1; BetrVG § 103 Abs. 1; BGB § 140
Verfahrensgang
ArbG Mainz (Entscheidung vom 11.10.2021; Aktenzeichen 8 Ca 577/21) |
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung durch die Beklagte und um die Weiterbeschäftigung der Klägerin
Die 1995 geborene Klägerin ist seit 01. September 2016 bei der Beklagten, die im selektiven Beautymarkt europaweit Parfümerien betreibt, als Einzelhandelskauffrau tätig, zuletzt kraft schriftlichen Arbeitsvertrags vom 15. Februar 2020 (Bl. 40 ff. d. A.; im Folgenden AV) als "Beauty Expert" in der Verkaufsstelle M. zu einer durchschnittlichen Bruttomonatsvergütung von 2.153,22 Euro bei einer regelmäßig wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer mit Ausnahme der zu ihrer Ausbildung Beschäftigten. Die Klägerin ist Ersatzmitglied des bei der Beklagten gewählten Betriebsrats. Zuletzt war die Klägerin zwei Wochen vor Zugang der vorliegend streitgegenständlichen Kündigung als Ersatz für das urlaubsbedingt verhinderte ordentliche Betriebsratsmitglied mit Betriebsratsaufgaben befasst.
In der Filiale M. wird ein Zeiterfassungssystem verwendet, in dem sich die Mitarbeiter mit einem persönlichen sog. Chipper bei Arbeitsbeginn am Terminal am Personaleingang ein- und bei Arbeitsende wieder auschippen. Bei Pausen chippen sich die Mitarbeiter bei Beginn aus und bei Wiederaufnahme der Arbeit ein. Die Arbeitszeiten werden insgesamt erfasst und sind Grundlage für die Vergütung der Mitarbeiter. Zuletzt wurde in einer Mitarbeiterbesprechung im Oktober 2020 auf die verbindliche Handhabung des Zeiterfassungssystems hingewiesen.
Um die Filiale betreten zu können, ist es erforderlich, die Alarmanlage auszuschalten (sog. ISB-Unscharf-Zeiten). Erst danach ist die Bedienung der Zeiterfassung, dh. auch ein Einchippen, möglich. Da eine Ausschaltung der Alarmanlage nur durch zwei Mitarbeiter erfolgen kann, ist es denkbar, dass eine Mitarbeiterin pünktlich zu Arbeitsbeginn vor der Filiale erscheint, ein Betreten der Filiale jedoch - außer in Notfällen - nicht möglich ist, da die zweite Kollegin noch nicht anwesend ist. An drei Tagen in 2020 sind in der Zeiterfassung der Klägerin manuelle Korrekturen zu ihren Gunsten auf einen Arbeitsbeginn vor der Unscharf-Schaltung der Alarmanlage erfolgt. Zwischen den Parte...