Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausübung mehrerer geringfügiger Beschäftigungen. Zusammenrechnung. Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze. Beginn der Sozialversicherungspflicht mit Bekanntgabe des Bescheides der Einzugsstelle oder des Rentenversicherungsträgers. rückwirkender Eintritt der Versicherungspflicht auch bei grob fahrlässigem Verhalten der Arbeitgebers ausgeschlossen. keine Anwendung der Geringfügigkeits-Richtlinien
Leitsatz (amtlich)
1. Wird die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs 1 Nr 1 SGB 4 durch Zusammenrechnung mehrerer geringfügiger Beschäftigungen gem § 8 Abs 2 S 1 SGB 4 überschritten und tritt infolge dessen Versicherungspflicht ein, beginnt diese gem § 8 Abs 2 S 3 SGB 4 nämlich erst mit dem Tag der Bekanntgabe des die Versicherungspflicht feststellenden Bescheids durch die Einzugsstelle oder einen Träger der Rentenversicherung.
2. Der rückwirkende Eintritt von Versicherungspflicht ist ausgeschlossen. Das gilt auch dann, wenn dem Arbeitgeber vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen sein sollte. Die davon abweichenden Anordnungen in den Richtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Deutschen Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit für die versicherungsrechtliche Beurteilung von geringfügigen Beschäftigungen (Geringfügigkeits-Richtlinien, dort Nr B 5.3 S 3) sind mit der gesetzlichen Regelung in § 8 Abs 2 S 3 SGB 4 nicht vereinbar und von den Gerichten nicht anzuwenden.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 28.2.2007 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 101,61 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob bzw. zu welchem Zeitpunkt die Beigeladene wegen mehrfacher geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse (bei der Klägerin und bei einem anderen Arbeitgeber) sozialversicherungspflichtig geworden ist.
Die Klägerin betreibt ein Architekturbüro. Ab dem 1.7.2004 beschäftigte sie die Beigeladene, eine Studentin, mit einem Entgelt von monatlich 350 €. Das Beschäftigungsverhältnis wurde der Beklagten gemeldet. Während der Zeit vom 14.9.2004 bis 21.1.2005 arbeitete die Beigeladene außerdem in der Metzgerei K. für ein Monatsentgelt von durchschnittlich 113,67 €. Auch dieses Beschäftigungsverhältnis war der Beklagten gemeldet worden.
Auf Nachfrage der Beklagten (Schreiben vom 21.1.2005), teilte die Klägerin unter dem 2.2.2005 mit, sie habe die Beigeladene seinerzeit nicht schriftlich nach weiteren Beschäftigungsverhältnissen gefragt.
Mit an die Klägerin gerichtetem Bescheid vom 14.6.2005 (ein gleichartiger Bescheid erging an die Metzgerei K.) stellte die Beklagte fest, die Beigeladene sei in der Zeit vom 14.9.2004 bis 21.1.2005 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen und müsse bei einer gesetzlichen Krankenkasse angemeldet werden. Nach ihrem (der Beklagten) Kenntnisstand übe sie mehrere geringfügige Beschäftigungen aus, wobei das Arbeitsentgelt in der Summe die Geringfügigkeitsgrenze von 400 € im Monat überschreite (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch, SGB IV). In solchen Fälle trete Versicherungspflicht gem. § 8 Abs. 2 Satz 3 SGB IV zwar erst mit dem Tag der Bekanntgabe der entsprechenden Feststellung ein. Das gelte allerdings nicht, wenn der Arbeitgeber vorsätzlich oder grob fahrlässig versäumt habe, den Sachverhalt für die versicherungsrechtliche Beurteilung aufzuklären. Hier liege Vorsatz bzw. grobe Fahrlässigkeit vor, weil die Klägerin die Beigeladene nicht schriftlich nach weiteren Beschäftigungsverhältnissen gefragt habe. Maßgebend für den Beginn der Versicherungspflicht sei deshalb der 14.9.2004.
Den dagegen (ohne Begründung) eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.2.2006 als unzulässig zurück; der Bevollmächtigte der Klägerin habe trotz Aufforderung eine Vollmacht nicht vorgelegt. Der Widerspruchsbescheid ging der Klägerin am 3.3.2006 (Eingangsstempel ihres Prozessbevollmächtigten auf der Ausfertigung des Widerspruchsbescheids SG-Akte S. 5) zu.
Am 27.3.2006 erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Konstanz. Sie trug vor, im Widerspruchsverfahren sei Vollmacht mit Schreiben vom 9.1.2006 vorgelegt worden. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit könne man ihr nicht vorwerfen. Sie habe die Beigeladene bei Arbeitsbeginn im Mai (2004) gefragt, ob sie weitere Beschäftigungen ausübe; diese müssten ggf. gemeldet werden, auch wenn sie erst später aufgenommen würden. Die Beigeladene habe seinerzeit nicht andernorts gearbeitet und habe später eine weitere Beschäftigung auch nicht angegeben. Erst auf Nachfrage der Beklagten (mit Schreiben vom 21.1.2005) habe sie von der zweiten Arbeitsstelle erfahren. Sie könne die Beigeladene nicht laufend nach etwaigen Zusatzbeschäftigungen befragen.
Die Beklagte trug vor, die im Widerspruchsverfahren rechtzeitig vorgelegte Vollmacht sei versehentlich nicht an die Rechtsab...