Rz. 32
Der Begriff der Krankheit ist gesetzlich nicht definiert. Allgemein wird Krankheit definiert als ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand. Regelwidrig ist ein körperlicher oder geistiger Zustand dann, wenn er nach allgemeiner Erfahrung unter Berücksichtigung eines natürlichen Verlaufs des Lebensgangs nicht bei jedem anderen Menschen gleichen Alters und Geschlechts zu erwarten ist. Zu den einen Entgeltfortzahlungsanspruch begründenden Krankheiten können auch rein seelische Erkrankungen zählen, wie Depressionen, Schockzustände, Neurosen oder Psychosen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Gesundheitsstörungen klinisch-funktionell manifestiert sind und Funktionsstörungen oder Beschwerden bewirken. Auf welche Ursache die Erkrankung zurückzuführen ist, ist grundsätzlich unerheblich. So kann der Zustand angeboren sein, auf einem Unfall oder einer Sucht beruhen. Zur Begründung eines Vergütungsanspruchs darf der Arbeitnehmer die Krankheit allerdings nicht verschuldet haben.
Rz. 33
Im Sozialversicherungsrecht setzt die Krankheit weiter eine Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit voraus. Eine Krankheit ist behandlungsbedürftig, wenn der regelwidrige Zustand ohne ärztliche Behandlung nicht behoben oder verbessert werden kann oder zumindest Schmerzen oder andere Beschwerden gelindert werden können. Arbeitsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn ist zu bejahen, wenn der Arbeitnehmer seine bisherige Tätigkeit nicht mehr oder nur noch auf die Gefahr hin ausüben kann, dass sein Gesundheitszustand sich verschlechtert. Im Rahmen des Krankheitsbegriffs eine Arbeitsunfähigkeit zu prüfen ist arbeitsrechtlich überflüssig, da der Entgeltfortzahlungsanspruch eine auf der Krankheit beruhende Arbeitsunfähigkeit als selbstständiges Tatbestandsmerkmal erfordert.
Rz. 34
Umstritten ist jedoch, ob entsprechend der sozialversicherungsrechtlichen Definition auch der arbeitsrechtliche Begriff der Krankheit eine Behandlungsbedürftigkeit des regelwidrigen Zustands erfordert. Teilweise wird angenommen, dass arbeitsrechtlicher und sozialversicherungsrechtlicher Krankheitsbegriff identisch seien und erst durch die Voraussetzung der Behandlungsbedürftigkeit hinreichend scharf eine Krankheit i. S. d. § 3 EFZG von sonstigen regelwidrigen Körperzuständen abgegrenzt werden könne. Während in älteren Entscheidungen des BAG die Behandlungsbedürftigkeit noch ausdrücklich erwähnt wurde, findet sich diese Anforderung in neueren Entscheidungen nicht mehr. So wird auch teilweise die Entbehrlichkeit dieses Tatbestandsmerkmals angenommen. Hierfür spricht, dass das Merkmal der Behandlungsbedürftigkeit keinen Erkenntnisfortschritt bringt. Ob eine Krankheit behandlungsbedürftig ist oder nicht, ist für die Frage der Arbeitsunfähigkeit und eines daraus folgenden Vergütungsanspruchs nach § 3 EFZG unerheblich. Und allein mit dem Merkmal eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands lassen sich die problematischen Fälle bereits klar einordnen. Im Anwendungsbereich des § 3 EFZG ist daher allein von dem medizinischen Krankheitsbegriff auszugehen.
Rz. 35
Abzugrenzen ist die Krankheit i. S. d. § 3 EFZG von einer Behinderung i. S. d. SGB IX. Eine solche liegt vor, wenn körperliche Funktionen, geistige Fähigkeiten oder seelische Zustände des Betroffenen von dem für das Lebensalter typischen Zustand in einem solchen Umfang abweichen, dass die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist und der Zustand voraussichtlich länger als 6 Monate andauert. Auch das bloße Nachlassen der körperlichen oder geistigen Fähigkeiten aufgrund des Alterns ist kein regelwidriger Zustand und damit keine Krankheit. Ob eine Erkrankung jedoch zugleich zu einer dauerhaften Leistungsunfähigkeit führt, ist für den Krankheitsbegriff i. S. d. § 3 EFZG und den Lohnfortzahlungsanspruch unerheblich.
Rz. 35a
Beschäftigungsverbote aufgrund der bloßen Gefahr einer Erkrankung und damit verbundener möglicher Ansteckungsrisiken, etwa Quarantäneanordnungen im Zuge der COVID-19-Pandemie, begründen weder eine Krankheit noch eine Entgeltfortzahlung.