0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift ist durch Art. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) v. 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) mit Wirkung zum 1.1.2020 in das SGB IX eingefügt worden.
Durch Art. 7 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sowie zur landesrechtlichen Bestimmung der Träger von Leistungen für Bildung und Teilhabe in der Sozialhilfe (Teilhabestärkungsgesetz) v. 2.6.2021 (BGBl. I S. 1367) wurde die Vorschrift mit Inkrafttreten zum 1.7.2021 (Art. 14 Abs. 4 des Gesetzes) neu gefasst.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift bestimmt den leistungsberechtigten Personenkreis in der Eingliederungshilfe ab 1.1.2020. Bis zum Inkrafttreten der Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises im Jahre 2023 (vgl. Rz. 12 ff.) wird der leistungsberechtigte Personenkreis in der Eingliederungshilfe nach den Vorschriften bestimmt, die am 31.12.2019 im 6. Kapitel des SGB XII und in der auf der Grundlage von § 60 SGB XII erlassenen Eingliederungshilfe-Verordnung geregelt waren. Die §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung erhalten für den Zeitraum 1.1.2020 bis 31.12.2022 Gesetzesrang.
2 Rechtspraxis
2.1 Ursprünglicher Gesetzentwurf der Bundesregierung
Rz. 3
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung in der BT-Drs. 18/9522 sah vor, den leistungsberechtigten Personenkreis in der Eingliederungshilfe neu zu definieren. In der Begründung des Gesetzentwurfs wurde ausgeführt, seit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) im Jahre 1962 sei der Personenkreis, der Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen erhalte, weitgehend unverändert geblieben. Der Behinderungsbegriff des § 2 BSHG sei im Jahre 2001 mit einem Verweis auf § 2 SGB IX angepasst worden. Dieser Behinderungsbegriff sei im Jahre 2005 inhaltsgleich in das SGB XII (§ 53) übernommen worden.
In der Eingliederungshilfe müsse für einen Rechtsanspruch das Merkmal einer wesentlichen Behinderung ("Wesentlichkeit") als Zugangsvoraussetzung vorliegen.
Rz. 4
In der Begründung des Gesetzentwurfs wird weiter ausgeführt, der geltende Behinderungsbegriff für die Eingliederungshilfe sei veraltet und weitgehend defizitorientiert. Er definiere sich u. a. über die Abweichung der individuellen Funktion, Fähigkeit oder Gesundheit vom für das Lebensalter eines Menschen typischen, als normal angesehenen Zustand. Er beziehe nur unzulänglich gesellschaftliche Veränderungen sowie das gewandelte Rollenverständnis von Menschen mit Behinderungen ein. Auch sei die Anwendung in der Praxis nicht immer einheitlich.
Rz. 5
In § 99 Abs. 1 des Gesetzentwurfs wurde bestimmt, dass Eingliederungshilfe Personen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 zu leisten ist, deren Beeinträchtigungen die Folge einer Schädigung der Körperfunktion und -struktur sind und die dadurch in Wechselwirkung mit den Barrieren in erheblichem Maße in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft erheblich eingeschränkt sind. Mit dem Verweis auf § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 wurde auf den mit dem BTHG in § 2 Abs. 1 Satz 1 neu definierten Begriff der Behinderung Bezug genommen, durch die Bezugnahme auf den Satz 2 auch für das Recht der Eingliederungshilfe klargestellt, dass eine Beeinträchtigung nur vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Rz. 6
Mit der Übernahme des Rechts der Eingliederungshilfe in das SGB IX sollte der leistungsberechtigte Personenkreis nicht ausgeweitet werden. Deshalb sah es der Gesetzgeber für erforderlich an, bei der Definition des leistungsberechtigten Personenkreises auch das in der Eingliederungshilfe im SGB XII verankerte Merkmal der "Wesentlichkeit" aufzugreifen. Dem sollte dadurch Rechnung getragen werden, dass die Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße eingeschränkt sein müsse.
Rz. 7
Abs. 1 Satz 2 bestimmte, dass eine Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße vorliege, wenn die Ausführung von Aktivitäten in 5 Lebensbereichen nicht ohne personelle oder technische Unterstützung möglich oder in mindestens 3 Lebensbereichen auch mit personeller oder technischer Unterstützung nicht möglich sei.
Rz. 8
Der Zugang wurde an die Lebensbereiche der "Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" der WHO angelehnt (International Classification of Funktioning, Disability an Health, ICF). Diese Lebensbereiche wurden in Abs. 2 aufgeführt. Es sind
1. Lernen und Wissensanwendung,
2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen,
3. Kommunikation,
4. Mobilität,
5. Selbstversorgung,
6. Häusliches Leben,
7. Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,
8. Bedeutende Lebensbereiche,
9. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
2.2 Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens
Rz. 9
In Stellungnahmen von Verbänden behinderter Menschen wurde die Regelung scharf kritisiert: Sie führe dazu, dass bisher leistungsberechtigte Menschen mit Behinderungen aus dem Leistungsbezug herausfielen oder nach dem neuen Recht Leistungsansprüche verwehrt würden. Der Gesetzentwurf lasse keine Gründe dafür erkennen, warum die E...