Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Massenentlassungen. Begriff des den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmens. Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmer. Beweislast
Normenkette
Richtlinie 98/59/EG Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 1
Beteiligte
Aviation Passage Service Berlin GmbH & Co. KG |
Tenor
Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ist dahin auszulegen, dass unter einem „den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen” jedes Unternehmen zu verstehen ist, das mit dem Arbeitgeber durch Beteiligungen an dessen Gesellschaftskapital oder durch andere rechtliche Verbindungen verbunden ist, die es ihm ermöglichen, einen bestimmenden Einfluss in den Entscheidungsorganen des Arbeitgebers auszuüben und ihn zu zwingen, Massenentlassungen in Betracht zu ziehen oder vorzunehmen.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidungen vom 24. November 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Februar 2017 (C-61/17 und C-62/17) sowie am 9. Februar 2017 (C-72/17), in den Verfahren
Miriam Bichat (C-61/17),
Daniela Chlubna (C-62/17),
Isabelle Walkner (C-72/17)
gegen
Aviation Passage Service Berlin GmbH & Co. KG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits (Berichterstatter) und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters F. Biltgen,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. April 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau M. Bichat, vertreten durch Rechtsanwalt F. Koch,
- von Frau D. Chlubna, vertreten durch die Rechtsanwälte H. Kuster und U. Meißner,
- von Frau I. Walkner, vertreten durch die Rechtsanwälte H. Kuster und U. Meißner,
- der Aviation Passage Service Berlin GmbH & Co. KG, vertreten durch die Rechtsanwältinnen U. Rupp und U. Schweibert,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Valero, F. Erlbacher und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 21. Juni 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, S. 16).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten, die Frau Miriam Bichat, Frau Daniela Chlubna und Frau Isabelle Walkner gegen ihren früheren Arbeitgeber, die Aviation Passage Service Berlin GmbH & Co. KG (im Folgenden: APSB), wegen der Wirksamkeit ihrer Entlassungen im Hinblick auf die in Art. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehenen Konsultationsverfahren führen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Am 17. Februar 1975 erließ der Rat der Europäischen Gemeinschaften die Richtlinie 75/129/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1975, L 48, S. 29).
Rz. 4
Durch die Richtlinie 92/56/EWG des Rates vom 24. Juni 1992 wurde die Richtlinie 75/129 geändert, wobei ihr Art. 2 um einen Abs. 4 ergänzt wurde, der lautete:
„Die Verpflichtungen gemäß den Absätzen 1, 2 und 3 gelten unabhängig davon, ob die Entscheidung über die Massenentlassungen von dem Arbeitgeber oder von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde.
Hinsichtlich angeblicher Verstöße gegen die in dieser Richtlinie enthaltenen Informations-, Konsultations- und Meldepflichten findet der Einwand des Arbeitgebers, das für die Massenentlassungen verantwortliche Unternehmen habe ihm die notwendigen Informationen nicht übermittelt, keine Berücksichtigung.”
Rz. 5
Aus Gründen der Klarheit und der Übersichtlichkeit wurde die Richtlinie 75/129 in der Fassung der Richtlinie 92/56 sodann durch die Richtlinie 98/59 aufgehoben und ersetzt, mit der die ursprüngliche Richtlinie kodifiziert wurde.
Rz. 6
Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 98/59 lautet:
„Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft ist es wichtig, den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken.”
Rz. 7
In Art. 2 der Richtlinie heißt es:
„(1) Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen.
(2) Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung...