Rz. 3
Das angefochtene Urteil ist auf tatsächliche und rechtliche Fehler hin zu prüfen. Das LSG ist nicht auf eine Nachprüfung des erstinstanzlichen Urteils beschränkt. Im Berufungsverfahren ist Streitgegenstand daher nicht das erstinstanzliche Urteil (BSG, Urteil v. 11.11.1987, 9a RV 22/85, ZfS 1988, 46), sondern, wie schon in der ersten Instanz, der Verwaltungsakt des Beklagten; Beispiel nach BSG, Urteil v. 8.10.1981, 2 RU 2/81: Das LSG hat nicht zu entscheiden, ob die Schätzung der unfallbedingten MdE durch das SG zutreffend ist, sondern ihm obliegt es selbst festzustellen, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Unfallfolgen gemindert ist.
Als Berufungsgericht überprüft das LSG daher nicht lediglich das Urteil des SG, sondern prüft den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG, dabei hat es auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen. Das in der ersten Instanz fixierte Streitprogramm wirkt fort. Gegenstand der Berufung wird grundsätzlich nicht mehr und nichts anderes als der Streitgegenstand der ersten Instanz, über den das SG entschieden hat (BSG, Beschluss v. 14.12.1988, 9 BV 32/88). Ungeachtet dessen gilt das Gebot der umfassenden Entscheidung über die vom Kläger erhobenen Ansprüche (§ 123) gleichermaßen für die Berufungsinstanz (§ 123 i. V. m. § 157 Satz 1). § 157 Satz 1 ist nicht dahin zu verstehen, dass stets allein der Umfang der Prüfung des Streitfalles durch das SG die Grenze der Prüfung durch das LSG bestimmt. Das folgt schon aus § 157 Satz 2, wonach "auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen sind" (vgl. BSG, Urteil v. 29.6.1979, 8b RK 4/79 SozR 5310 § 6 Nr. 2; hierzu Casselmann, SGb 1980 S. 350).
Rz. 4
Entscheidend ist der Klageantrag nur dann, wenn er sich mit dem geltend gemachten Klageanspruch deckt. Hat der Kläger in einem Verfahren über die Gewährung von Leistungen nach dem (vormaligen) BSHG seine Klage vor dem Sozialgericht wirksam auf die Einkommensanrechnung zum sozialhilferechtlichen Bedarf beschränkt, so kann das Berufungsgericht über den entsprechenden im sozialgerichtlichen Verfahren gestellten Antrag auf Neubescheidung nicht hinausgehen. Der Grundsatz "ne ultra petita" gilt auch unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 27.9.2010, L 8 SO 19/09).
Rz. 5
In die Prüfung des LSG sind alle dem angefochtenen Urteil vorausgegangenen, nicht selbständig anfechtbaren Entscheidungen des SG einzubeziehen. Hingegen binden alle selbständig anfechtbaren, indessen nicht angefochtenen Entscheidungen sowie alle ausdrücklich der Nachprüfung entzogenen Entscheidungen das LSG. Entsprechendes gilt für nicht widerrufliche Prozesshandlungen sowie unterlassene Rügen von Verfahrensmängeln (z. B. § 295 ZPO). Hinsichtlich der Bindungswirkung ist allerdings dahin zu differenzieren, dass diese sich nur auf die Tatsache der Vorentscheidung bzw. Prozesshandlung als solcher erstreckt, nicht hingegen auf die daraus vom SG hergeleiteten rechtlichen und tatsächlichen Folgerungen.
Rz. 6
Die äußerste Grenze des zulässigen Berufungsantrags ist der Klageantrag, soweit nicht eine Klageerweiterung stattfindet. An die Fassung des Antrags ist das LSG zwar nicht gebunden, über das Begehren darf es jedoch nicht hinausgehen. Das Verbot der reformatio in peius gilt (zu Ausnahmen: BSG, Urteil v. 29.11.1957, 7 RAr 68/57). Allerdings darf eine falsche Kostenentscheidung auch bei erfolglosem Rechtsmittel wegen fehlender Antragsbindung von Amts wegen berichtigt werden (BSG, Urteil v. 11.12.1990, 1 RR 2/88, SozR 3-2500 § 159 Nr. 1; LSG NRW, Urteil v. 13.2.2002, L 10 P 42/99; Zeihe, SGG, 11/2010, § 193 Rn. 2e).